Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
Grange-over-Sands wohnen zu lassen. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich um ihre Sprösslinge zu kümmern. Das hätte Tim Gracie gern erklärt, aber wozu? Sie war erst zehn und noch zu klein, um zu verstehen, was es mit Stolz, Hass und Rachegelüsten auf sich hatte.
»Daddys Haus ist schrecklich«, sagte Gracie nachdrücklich. »Es gibt überall Spinnen. Es ist dunkel, und die Treppen quietschen, und es zieht, und in den Ecken hängen Spinnweben. Ich will bei dir wohnen, Mummy. Und Timmy auch.« Sie wand sich auf ihrem Sitz. »Du willst doch auch bei Mummy wohnen, oder, Timmy?«
Nenn mich nicht Timmy, du dumme Gans , hätte Tim seiner Schwester am liebsten geantwortet, aber er konnte einfach nicht wütend auf Gracie sein, wenn sie ihn so vertrauensvoll anschaute. Und er hätte ihr gern geraten, sich ein dickeres Fell zuzulegen, wenn er diesen Blick sah. Die Welt war ein Drecksloch, und er konnte einfach nicht verstehen, warum Gracie das noch nicht begriffen hatte.
Tim sah, dass seine Mutter ihn im Rückspiegel beobachtete und abwartete, was er seiner Schwester antworten würde. Er kräuselte die Lippen und schaute aus dem Fenster. Eigentlich konnte er es seinem Vater nicht verübeln, dass er die Bombe hatte platzen lassen, die ihr Leben zerstört hatte. Seine Mutter war ein richtiges Miststück.
Typisch, das dumme Zeug, das die blöde Kuh ihnen erzählt hatte, um ihnen zu erklären, warum sie sie jetzt schon nach Bryanbarrow zurückbrachte. Sie wusste nicht, dass er im selben Moment in der Küche ans Telefon gegangen war wie sie in ihrem Schlafzimmer und dass er alles mitgehört hatte: Wie sein Vater gefragt hatte, ob sie die Kinder noch einen Tag länger bei sich behalten könne, und wie seine Mutter zugestimmt hatte. Und zwar ausnahmsweise einmal liebenswürdig, was seinem Vater eigentlich hätte sagen müssen, dass irgendetwas im Busch war, denn selbst Tim hatte es sofort kapiert. Deswegen hatte er sich auch nicht gewundert, als seine Mutter zehn Minuten später komplett aufgedonnert aus ihrem Zimmer gekommen war und ihn forsch-fröhlich aufgefordert hatte, seine Sachen zu packen, sein Vater habe gerade angerufen und seine Mutter gebeten, die Kinder früher als geplant nach Bryanbarrow zurückzubringen.
»Irgendeine Überraschung«, hatte sie gesagt. »Was, wollte er mir nicht verraten. Also beeilt euch.«
Dann hatte sie sich auf die Suche nach ihren Autoschlüsseln gemacht. Die hätte er verschwinden lassen sollen, dachte Tim. Nicht seinetwegen, sondern Gracie zuliebe. Sie hätte es verdient, noch einen Tag länger bei ihrer Mutter zu bleiben, wenn sie das so gern wollte.
»Es gibt nicht mal genug heißes Wasser, dass man die Badewanne vollkriegt, Mummy«, sagte Gracie gerade. »Und das Wasser tröpfelt aus dem Hahn, und es ist ganz braun und eklig. Nicht wie bei dir, wo ich schön Schaum haben kann. Ich hab so gerne Schaum. Warum können wir nicht bei dir wohnen, Mummy?«
»Das weißt du ganz genau«, antwortete Niamh Cresswell schließlich.
»Nein, das weiß ich nicht«, widersprach Gracie. »Die meisten Kinder bleiben bei ihrer Mutter, wenn ihre Eltern sich scheiden lassen. Sie wohnen bei ihrer Mutter, und sie besuchen ihren Vater. Du hast doch genug Platz für uns.«
»Gracie, frag deinen Vater, warum das bei uns alles anders ist, wenn du es schon unbedingt wissen willst.«
Na klar, dachte Tim. Als würde ihr Vater Gracie erklären, warum sie in einem grauenhaften Haus am Rand eines grauenhaften Kaffs wohnten, wo es an einem Samstagabend oder einem Sonntagnachmittag nichts zu tun gab, außer Kühe zu zählen oder den Schafen beim Blöken zuzuhören. Bryanbarrow lag am Arsch der Welt, aber für das neue Leben ihres Vaters war es perfekt. Und von dem Leben … hatte Gracie keine Ahnung. Das war auch nicht vorgesehen. Sie sollte glauben, dass sie Zimmer vermieteten, bloß dass es nur einen Untermieter gibt, Gracie, und was glaubst du wohl, in welches Bett der kriecht, wenn du längst schläfst, und was glaubst du wohl, was die beiden dort treiben, wenn die Tür zu ist?
Tim bohrte die Fingernägel seiner rechten Hand so tief in die Haut an seinem linken Handrücken, bis er spürte, wie sich kleine Blutströpfchen bildeten. Seinem Gesicht war nichts anzusehen, das wusste er, denn er hatte diesen leeren Ausdruck trainiert. Zusammen mit dem Schmerz, den er seinen Händen zufügte, sorgte dies dafür, dass er dort blieb, wo er sein wollte, nämlich weit weg von anderen Leuten und weit weg von allem. Er
Weitere Kostenlose Bücher