Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
Informationen über die beiden ältesten Söhne des Bürgermeisters – den Priester Carlos und den Zahnarzt Miguel – gesammelt und anhand eines Fotos von Miguels Frau festgestellt hatte, dass keine Schönheitsoperation der Welt sie in Alatea Fairclough hätte verwandeln können, wollte sie diesmal versuchen, etwas über Ángel, Santiago und Diego herauszufinden. Wenn keiner der Brüder in irgendeiner Verbindung zu Alatea stand, würde sie sich die restlichen Familienmitglieder vornehmen müssen, und das, so hatte ihr die Studentin aus Barcelona versichert, konnten gut und gern Hunderte sein.
Über Ángel, der, anders als sein Name vermuten ließ, offenbar das schwarze Schaf der Familie war, gab es kaum Informationen. Mit Hilfe ihres Wörterbuchs reimte sie sich in mühseliger Kleinarbeit zusammen, dass er einen Autounfall verursacht hatte, bei dem seine Beifahrerin, ein fünfzehnjähriges Mädchen, so schwer verletzt worden war, dass sie seitdem behindert war.
Barbara verfolgte die Spur – immerhin war die Fünfzehnjährige, abgesehen von Miguels hässlicher Ehefrau, das einzige weibliche Wesen, auf das sie bei ihren Nachforschungen bisher gestoßen war –, doch sie führte in eine Sackgasse. Von der jungen Frau war kein Foto aufzutreiben. Und das einzige Foto von Ángel, das sie fand, zeigte ihn als Neunzehnjährigen, aber das spielte auch keine Rolle, denn nach dem Unfall verschwand er aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Wäre er Nordamerikaner gewesen, hätte er entweder eine Therapie gemacht oder Jesus entdeckt, aber der Bursche war Südamerikaner, und seit dem Unfall hatte sich keiner mehr für ihn interessiert. Ein zu kleiner Fisch wahrscheinlich.
Barbara knöpfte sich Santiago vor. Sie fand einen Artikel über die Erstkommunion des Jungen. Zumindest vermutete sie, dass es sich um die Erstkommunion handelte, denn auf dem Foto, das den Artikel begleitete, stand er aufgereiht unter lauter kleinen Jungs in schwarzen Anzügen und kleinen Mädchen in Brautkleidern, und entweder hatte die Mun-Sekte beschlossen, ihre Mitglieder bereits im Kindesalter zu verheiraten, oder diese Kinder waren als Katholiken in Argentinien gerade zu würdigen Empfängern des heiligen Sakraments aufgestiegen. Da sie es jedoch ziemlich merkwürdig fand, dass über eine Erstkommunion so ausführlich berichtet wurde, versuchte Barbara mit Hilfe ihres Wörterbuchs, ein bisschen mehr zu verstehen. Was ihr schließlich gelang: Die Kirche war abgebrannt, und man hatte die Erstkommunionsfeier im Stadtpark abhalten müssen. Es konnte aber auch sein, dass die Kirche von einer Flut oder einem Erdbeben zerstört oder Termiten zum Opfer gefallen war, so genau konnte Barbara das bei ihren mangelnden Spanischkenntnissen nicht eruieren, und sie fluchte vor sich hin über die Mühe, die es sie kostete, sich Wort für Wort durch all diese Texte zu arbeiten.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das Foto von den Kommunionkindern und sah sich die Mädchen an. Dann nahm sie das Foto von Alatea, das sie im Internet gefunden hatte, und verglich es mit jedem Gesicht auf dem Gruppenbild. Die Namen der Kinder waren angegeben, und es waren nur fünfzehn, und natürlich hätte sie jeden einzelnen Namen googeln können, doch das hätte Stunden gedauert, und so viel Zeit hatte sie nicht. Wenn Superintendent Ardery zurückkam und Barbara nicht gemeinsam mit dem CPS -Mitarbeiter über den Zeugenaussagen sitzen sah, dann gute Nacht.
Sie überlegte, ob sie die wahrscheinlichste Kandidatin unter den Kommunionkindern aussuchen und dann das Age-Progression-Verfahren anwenden sollte. Aber dazu reichte weder ihre Zeit noch ihre Befugnis. Also recherchierte sie weiter über Santiago, denn wenn sich herausstellte, dass da nichts mehr zu holen war, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich Diego vorzunehmen.
Sie fand ein Foto von dem jugendlichen Santiago in der Rolle des Othello ohne die übliche schwarze Schminke in dem gleichnamigen Shakespeare-Stück. Und noch ein letztes Foto von ihm als Schüler zusammen mit seiner Fußballmannschaft und einem riesigen Pokal. Und damit verlor sich seine Spur ebenso wie die von Ángel. Es war, als verlören die Medien vollkommen das Interesse an den jungen Männern, wenn sie nicht bis Anfang zwanzig irgendeinen vorzeigbaren Erfolg aufweisen konnten – wie in diesem Fall der Priesterseminarist und der angehende Zahnarzt. Oder sie waren für ihren Vater politisch nicht mehr nützlich. Denn der Vater war
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