Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
womit sie es zu tun hatten, hatten sie die Kollegen von der Sitte verständigt. Und so hatten sich Manette und Freddie erneut Superintendent Connie Calva gegenübergesehen. Sie betrat den Raum und betrachtete die Szenerie: die viktorianische Einrichtung, das offene Fenster, Big Ben im Hintergrund, den Plüschhund am Fußende des Betts, die Kostüme auf dem Boden, Tim, der mit dem Kopf auf Manettes Schoß lag. Dann hatte sie die Constables gefragt: »Haben Sie einen Krankenwagen gerufen?« Und zu Manette hatte sie gesagt: »Tut mir leid, mir waren die Hände gebunden. Ich muss mich an die Vorschriften halten.« Manette hatte sich abgewandt, aber Freddie war der Kragen geplatzt: »Kommen Sie uns nicht mit Ihren verdammten Vorschriften!« Dafür hätte Manette ihn umarmen können, und ihr waren fast die Tränen gekommen vor Verzweiflung darüber, dass sie so dumm gewesen war und Freddie McGhie bis zu diesem Augenblick nie gesehen hatte, wie er wirklich war.
Superintendent Calva ließ sich nicht beirren. Sie schaute Manette an und fragte: »Ich nehme an, Sie sind zufällig hier reingeraten. Sie haben die Alarmanlage gehört, die Sauerei draußen gesehen und Verdacht geschöpft, richtig?«
Manette schaute Tim an, der angefangen hatte zu zittern, und traf eine Entscheidung. Sie räusperte sich und sagte, nein, sie seien nicht zufällig in den Laden gestolpert, auch wenn es sehr freundlich von Superintendent Calva sei, das anzunehmen. Sie und ihr Mann – sie vergaß, Exmann zu sagen – seien mit Gewalt in den Laden eingedrungen. Sie hätten sich über das Gesetz hinweggesetzt und würden die Konsequenzen dafür in Kauf nehmen. Leider seien sie nicht rechtzeitig eingetroffen, um die Vergewaltigung eines Vierzehnjährigen und die Filmaufnahmen für die Perversen in aller Welt verhindern zu können, aber den Rest würden sie der Polizei überlassen, ebenso wie die Entscheidung, auf welche Weise man mit ihr und ihrem Mann – wieder vergaß sie, ihn als ihren Exmann zu bezeichnen – verfahren wolle, nachdem sie in den Laden eingebrochen waren oder wie auch immer die Polizei ihr Vorgehen bezeichnen wolle.
»Als Malheur, würde ich sagen«, hatte Superintendent Calva daraufhin gesagt. »Oder vielleicht als dummen Streich? Auf jeden Fall müssten diese Müllcontainer mit irgendeiner Art Bremsen ausgestattet werden, damit sie nicht in Schaufenster rollen können.« Sie hatte sich noch einmal umgesehen und ihre Leute angewiesen, Beweismittel einzusammeln. Dann hatte sie gesagt: »Wir werden von dem Jungen eine Aussage brauchen.«
»Aber nicht jetzt«, hatte Manette geantwortet.
Dann waren sie zum Krankenhaus gefahren. Die Ärzte und Krankenschwestern im Krankenhaus in Keswick waren sehr behutsam mit Tim umgegangen und hatten ihn schließlich in Manettes Obhut entlassen. Sie und Freddie hatten ihn mit nach Hause genommen, hatten ihn in die Badewanne gesteckt, ihm eine warme Suppe vorgesetzt, noch eine Weile mit ihm am Küchentisch gesessen und ihn schließlich ins Bett verfrachtet. Dann hatten sie sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Manette hatte in ihrem Zimmer eine schlaflose Nacht verbracht.
Am frühen Morgen, noch bevor es hell wurde, hatte sie Kaffee aufgesetzt. Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt, und jetzt starrte sie mit leerem Blick ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe an, hinter der noch dunkle Nacht herrschte und irgendwo in der Nacht der See lag, an dessen Ufer die Schwäne noch im Schilf schliefen.
Als Nächstes würden sie wohl Niamh anrufen müssen. Sie hatte Kaveh bereits am Abend zuvor Bescheid gesagt und ihn gebeten, Gracie auszurichten, sie brauche sich keine Sorgen um ihren Bruder zu machen.
Und jetzt musste sie sich irgendwie mit Niamh auseinandersetzen. Als Tims Mutter hatte sie das Recht zu wissen, was vorgefallen war, aber Manette fragte sich, ob es wirklich nötig war, dass Niamh es erfuhr. Was wenn sie nicht reagierte und Tim erfuhr davon? Dann wäre er doch sicher am Boden zerstört, oder? Und hatte er nicht schon genug durchgemacht? Andererseits mussten sie sich irgendwann bei Niamh melden, denn immerhin wusste sie, dass ihr Sohn vermisst wurde.
Manette saß am Küchentisch und zerbrach sich den Kopf, was zu tun war. Tim zu verraten war undenkbar. Zugleich würde er aber auch Hilfe brauchen. Die konnte er in der Margaret Fox School bekommen, wenn er sich dort kooperativ verhielt. Doch wann war Tim jemals kooperativ gewesen? Und wie konnte man von ihm erwarten, dass er nach allem, was
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