Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
hatte, denn da war ihr ihre letzte Begegnung mit Thomas Lynley wieder eingefallen.
Nachdem sie am Morgen ihre Aussagen vor Gericht gemacht hatten, war Lynley zurück in den Yard gefahren, und Barbara war zum Zahnarzt gegangen. Erst am späten Nachmittag waren sie sich im Aufzug wieder begegnet. Barbara kam gerade aus der Tiefgarage, und Lynley stieg im Erdgeschoss zu. Sie sah ihm sofort an, dass er in Gedanken versunken war. Als sie am Vormittag vor dem Gerichtssaal Nr. 1 gewartet hatten, war er ebenfalls in sich gekehrt gewesen, aber sie hatte vermutet, dass das mit seiner bevorstehenden Aussage zu tun hatte – vor ein paar Monaten erst war er mit knapper Not in dem Tatfahrzeug dem Tod entronnen. Aber diesmal schien ihn etwas ganz anderes zu beunruhigen, und als er, kaum dass die Aufzugtüren sich geöffnet hatten, im Zimmer von Superintendent Ardery verschwunden war, glaubte Barbara auch zu wissen, was es war.
Lynley glaubte, sie wüsste nicht, was zwischen ihm und Ardery ablief, und sie konnte sich denken, wie er zu dieser Annahme kam. Keiner im Yard ahnte, dass Lynley und Ardery es zwei-, manchmal dreimal pro Woche miteinander trieben, aber keiner im Yard kannte Lynley so gut wie Barbara. Eigentlich konnte sie sich sowieso nicht vorstellen, dass irgendjemand Lust haben könnte, mit Superintendent Ardery zu vögeln – das musste ja sein, als würde man mit einer Kobra ins Bett gehen. Andererseits versuchte sie seit vier Monaten sich einzureden, dass Lynley es zumindest verdient hatte, etwas Schönes zu erleben. Seine Frau war vor ihrer eigenen Haustür von einem Zwölfjährigen erschossen worden, danach war er fünf Monate lang allein wie von Sinnen an der Küste von Cornwall entlanggewandert und ziemlich neben der Spur gewesen, als er nach London zurückgekommen war … Wenn er das fragliche Vergnügen brauchte, seine Chefin eine Zeitlang flachzulegen, bitte sehr. Sie konnten beide in große Schwierigkeiten geraten, wenn irgendjemand Wind von der Affäre bekam. Doch es würde ohnehin niemand davon erfahren, weil die beiden sehr diskret vorgingen und Barbara schweigen würde wie ein Grab. Zudem würde Lynley sich garantiert nicht auf Dauer an eine wie Isabelle Ardery binden. Der Mann konnte auf dreihundert Jahre Familiengeschichte zurückblicken, er kannte seine Pflichten, und die hatten nichts zu tun mit einer zeitweiligen Affäre mit einer Frau, an der der Titel Countess of Asherton hängen würde wie ein Mühlstein. Von einem Mann wie ihm wurde erwartet, dass er standesgemäße Nachkommen produzierte, die den Familiennamen in die Zukunft trugen. Das wusste er, und er würde sich entsprechend verhalten.
Trotzdem konnte Barbara sich nicht so recht damit abfinden, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Das Wissen darum stand jedes Mal unausgesprochen im Raum, wenn sie mit Lynley zu tun hatte. Sie fand das unerträglich. Nicht die Affäre selbst, sondern die Tatsache, dass er nicht mir ihr darüber redete. Nicht dass sie das von ihm erwartet hätte. Nicht dass sie das wirklich wollte. Nicht dass sie gewusst hätte, was sie sagen sollte, falls er tatsächlich eine Bemerkung darüber machte. Aber sie waren Partner, sie und Lynley, oder zumindest waren sie Partner gewesen, und Partner sollten doch – ja was eigentlich?, fragte sie sich. Doch das war eine Frage, die sie sich lieber nicht beantwortete.
Sie öffnete die Fahrertür. Es regnete nicht so stark, dass es sich gelohnt hätte, einen Schirm zu benutzen. Sie schlug ihren Kragen hoch, nahm die Tüte mit ihren neuen Errungenschaften vom Beifahrersitz und eilte nach Hause.
Wie immer warf sie einen Blick zu den Fenstern der Parterrewohnung in dem edwardianischen Haus, hinter dem sie wohnte. Es wurde schon dunkel, und es brannte Licht. Sie sah ihre Nachbarin an der Terrassentür vorbeigehen.
Also gut, dachte sie, sie war bereit, es sich einzugestehen. Sie wollte, dass jemand es bemerkte. Sie hatte stundenlang im Zahnarztstuhl ausgeharrt, und ihre einzige Belohnung war ein knappes Nicken von Isabelle Ardery gewesen, begleitet von der Bemerkung: »Als Nächstes kümmern Sie sich um Ihre Frisur, Sergeant.« Anstatt also dem Weg hinters Haus zu folgen, wo unter einer riesigen Robinie der Bungalow stand, in dem sie wohnte, klopfte Barbara an die Tür der Erdgeschosswohnung. Die Anerkennung einer Neunjährigen war besser als nichts.
Hadiyyah öffnete, obwohl ihre Mutter sie schalt: »Liebes, das sollst du doch nicht tun! Man kann nie wissen, wer draußen
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