Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
Straßenecke stand.
Der Garten leuchtete in allen Herbstfarben und machte sich bereit für den Winter. Der Rasen war übersät mit Laub, das zusammengeharkt werden musste, und die Blumen in den Beeten am Rand waren längst verblüht, ihre Stängel beugten sich unter der Last der verwelkten Blüten. Die Gartenmöbel aus Korbgeflecht waren mit Schutzhüllen bedeckt. Moos wuchs zwischen den Backsteinen, mit denen der Gartenweg gepflastert war. Lynley folgte dem Weg bis zu den Stufen, die in die Küche im Souterrain führten, wo schon Licht brannte. Durch die beschlagene Fensterscheibe sah er drinnen jemanden hin und her gehen.
Er klopfte zweimal kräftig, und als der Hund bellte, öffnete er die Tür und sagte: »Ich bin’s, Joseph. Ich bin durch den Garten gekommen.«
»Tommy?« Das war nicht die Stimme, die Lynley erwartet hatte, sondern die von Josephs Tochter. »Bist du unter die Klinkenputzer gegangen?«
Sie folgte dem Hund, einem Langhaardackel mit dem unpassenden Namen Peach, zur Tür. Peach bellte und sprang aufgeregt an Lynley hoch. Das Tier war so unerzogen wie immer, der lebende Beweis für das, was Deborah St. James oft genug behauptet hatte: dass sie einen Hund brauchte, den sie auf den Arm nehmen konnte, weil sie unfähig sei, irgendeinem Wesen irgendetwas beizubringen.
»Hallo«, sagte Deborah zu Lynley. »Was für eine angenehme Überraschung!« Sie schob Peach aus dem Weg, umarmte Lynley und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bleibst zum Essen«, verkündete sie. »Aus allen möglichen Gründen, aber vor allem, weil ich heute koche.«
»Großer Gott. Wo ist denn dein Vater?«
»In Southampton. Der Jahrestag. Diesmal wollte er nicht, dass ich mitfahre. Ich nehme an, weil es der zwanzigste ist.«
»Ah.« Er wusste, dass Deborah nicht mehr zu dem Thema sagen würde. Nicht, weil es sie traurig machte, über den Tod ihrer Mutter zu sprechen, die gestorben war, als Deborah sieben Jahre alt war, sondern seinetwegen, um bei ihm keine schmerzvollen Erinnerungen zu wecken.
»Morgen kommt er wieder zurück«, sagte Deborah. »Aber bis dahin ist der arme Simon leider meinen Kochkünsten ausgeliefert. Bist du hergekommen, um mit ihm zu reden? Er ist oben.«
»Ich möchte mit euch beiden reden. Was kochst du denn?«
»Shepherd’s Pie. Aus einer Fertigpackung. Das krieg ich so gerade hin. Außerdem, Kartoffeln sind Kartoffeln, oder? Dazu gibt’s Brokkoli nach Mittelmeerart mit Olivenöl und Knoblauch. Und vorher einen Salat, auch mit Olivenöl und Knoblauch. Bleibst du zum Essen? Du musst! Wenn’s ungenießbar ist, kannst du ja flunkern und behaupten, es schmeckt wie Ambrosia. Ich merke es dir sowieso an, wenn du lügst. Aber das darfst du ruhig, denn wenn du das Essen lobst, muss Simon es auch tun. Ach ja, und Nachtisch gibt’s auch.«
»Dann wird der den Ausschlag geben.«
»Ah. Siehst du, schon hab ich dich bei einer Lüge ertappt! Aber ich spiele mit. Es ist eine französische Tarte. Genauer gesagt, eine Apfel-Birnen-Tarte.«
»Wie kann ich da widerstehen?« Lynley schaute zur Treppe, die nach oben führte. »Ist er …?«
»In seinem Arbeitszimmer. Geh nur rauf. Ich schaue noch mal kurz in den Ofen, dann komme ich nach.«
Im Erdgeschoss ging er den Flur hinunter. Er hörte Simon St. James’ Stimme aus dem Arbeitszimmer im vorderen Teil des Hauses. An drei Wänden des Zimmers standen überquellende Bücherregale, die bis zur Decke reichten, an der vierten hingen Deborahs Fotos. Als Lynley eintrat, saß sein Freund am Schreibtisch, und die Art, wie er den Kopf gesenkt hielt und sich beim Telefonieren mit der Hand durchs Haar fuhr, sagte Lynley, dass Simon sich mit irgendeinem Problem herumschlug.
»Ja, das dachte ich auch, David«, sagte St. James gerade. »Und ich glaube es immer noch. Soweit ich das beurteilen kann, ist es die Lösung, die wir suchen … Ja, ja. Das verstehe ich voll und ganz … Ich werde noch mal mit ihr reden … Wie lange genau? … Wann könnten wir sie treffen? … Ja, verstehe.« Er blickte auf, sah Lynley und nickte zum Gruß. »Also gut. Grüß Mutter und die deinen«, sagte er, dann legte er auf. Er hatte also mit seinem ältesten Bruder David gesprochen, dachte Lynley.
St. James erhob sich mühsam, schob sich vom Schreibtisch weg, um sich darauf abstützen zu können, behindert durch die Beinschiene, die er seit Jahren tragen musste. Er begrüßte Lynley und trat an den Getränkewagen vor dem Fenster. »Ich brauche einen Whiskey«, sagte er zu Lynley.
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