Gleich bist du tot
waren offenbar in Druck gegangen, bevor sie von der letzten Entführung und dem letzten Video erfahren hatten. Normalerweise interessierten January derartige Geschichten nicht sehr. Sie verfolgte sie nicht so genau. Es passierte immer irgendwas Schlimmes, und wenn es nichts war, wogegen man selbst etwas tun konnte, was half es dann, wenn man darüber Bescheid wusste? Die Medien verbreiteten Angst und negative Stimmung. Das war wie Krebs, der sich dir in die Knochen frisst, wenn du nichts dagegen unternimmst, und am Ende fühlst du dich klein, unnütz und machtlos. Genau so, wie es das System, die Regierungen und die großen Konzerne wollten. Aber diese Geschichte jetzt fand direkt vor ihrer Haustür statt und ließ sich deshalb nicht so leicht ignorieren. Etwas so Entsetzliches, das in so unmittelbarer Nähe geschah. Das war zu nahe, um ruhig zu bleiben.
January legte die Zeitung weg und blies in ihren Pfefferminztee, der endlich gerade richtig stark und heiß war. Sie lehnte sich in dem großen Korbsessel zurück, nippte an ihrer Tasse und betrachtete die scharf geschnittenen Blätter der Stechapfelpflanze, die sich selbst hier drinnen weigerte, unter englischem Himmel Blüten zu treiben. January mochte das Gewächshaus für Tropenpflanzen, besonders an einem späten Herbstnachmittag wie diesem, wenn der Wind draußen Laubwirbel gegen die Fenster blies. Sie liebte die schwülwarme Luft und den Geruch der feuchten Erde, in den sich der Duft von Wachsen und Vergehen mischte, und sie liebte auch das unregelmäßige Knacken und Knarren der alten Leitungen und Heizkörper. Dad wollte die gesamte Installation herausreißen, hatte er gesagt, und durch etwas Neues, Modernes ersetzen, etwas Computergesteuertes. Darüber hinaus hatte er Pläne für einen erhöhten Durchgang in Auftrag gegeben, eine Art Brücke, sodass man die Palmen und übrigen Pflanzen von oben, gleichsam aus der Vogelperspektive, sehen konnte. January hatte einen stillen, aber stetigen Feldzug gegen diese vorgeschlagenen Neuerungen begonnen. Das Alte, wenig Effektive und der Verfall waren Dinge, die sie mochte. Die abblätternde Farbe an den Lehnen der unbequemen schmiedeeisernen Bänke. Die Sprünge in den Scheiben hier und da. Und doch wurde die Natur hier drinnen immer noch mehr, triumphierte über den Verfall. Ihr Handy auf dem kleinen Korbtisch piepste. Noch eine SMS von Nick. Nun, das kann warten, dachte sie, nahm einen zweiten Schluck und einen dritten.
Es war wunderbar, dass Dad das Anwesen gekauft hatte. Wirklich wunderbar, dass er endlich nach Hause gekommen war. Fay, ihre Mutter, Dads zweite Ex-Frau, die Engländerin, hatte ihr gesagt, sie halte ihn für wahnsinnig. Sie jedenfalls, das stand fest, würde nie wieder einen Fuß in dieses kalte, beschissene England setzen. Das Land ist so hinüber, Jan, versaut, am Ende. Aber January dachte, dass er es war, der recht hatte, und dass er hier vielleicht endlich alles wieder auf die Reihe bekam. Wenn man überall gewesen war, alles gesehen hatte, dann wollte man am Ende nur noch nach Hause. Nicht, dass Boden Hall tatsächlich Dads altes Zuhause gewesen wäre. Nein, das war das kleine Gemeindehaus auf der anderen Seite von Crowby, das da immer noch stand. In nicht viel mehr als dreißig Minuten konnte man hinfahren und stand davor. Es war eine echt triste Bude in einer echt tristen Straße, und die Leute, die drin wohnten, waren nicht anders.
Dad hatte Boden Hall für ein Almosen gekauft, fast zumindest. Der Vorbesitzer war ein sehr unartiger Junge gewesen und mit der Hand, nein, dem ganzen Arm, tief in einer wirklich gemeinen Kasse erwischt worden, was ihm nicht nur eine gehörige Gefängnisstrafe eingebracht, sondern auch seine gesamten Besitztümer genommen hatte. Falls January ihren Vater richtig kannte, und sie nahm an, dass sie ihn wenigstens so gut wie alle anderen kannte, hatte ihm dieses kleine Detail den Kauf sicher noch schmackhafter gemacht, und er hatte den verruchten Hintergrund als zusätzlichen Bonus betrachtet. Sie trank ihren Tee aus und ließ sich dazu herab, Nicks SMS zu lesen, antwortete ihm aber noch nicht. Es ging ihm schon wieder um die Songfolge, der Junge war ja völlig durch den Wind. Wenn es nach January gegangen wäre, hätten sie nur die ersten zwei, drei Nummern vorab festgelegt, um anschließend auf die Menge zu hören und ihrem Gespür zu folgen, was als Nächstes am besten ankäme. Sie beschloss, einen kleinen Spaziergang über das Gelände zu machen, bevor sie
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