Gleichklang der Herzen
tatsächlich spurlos verschwinden lassen könnte? Sie hatte oft von entführten Kindern gehört, aber das waren immer nur lückenhafte Erzählungen gewesen. Auf jeden Fall würde es Lord Wroxham schlecht bekommen, wenn der Herzog von seinem üblen Streich erführe. Aber zurzeit war Ravella noch in den Händen der Zigeuner.
Sie hörte draußen Schritte. Wieder öffnete sich die Tür, und die dicke Frau kam herein. Sie nahm die Schüssel und den Krug vom Tisch, sah Ravella tückisch an und ging zur Tür. Aber diesmal war Ravella schneller. Sie stellte sich zwischen die Frau und die Tür.
„Warum bin ich hier? Ich befehle Ihnen, es mir zu sagen.“
„Nicht sprechen!“, entgegnete die Frau mit tiefer Stimme.
Irgendetwas in ihrem Akzent und der mühsamen Aussprache verriet, dass sie nicht aus England stammte. Plötzlich fasste Ravella einen Entschluss. Die Zigeunerin war an beiden Händen behindert, denn sie trug die Schüssel und den Krug. Die schweren Männerstiefel ohne Schnürsenkel erlaubten keinen schnellen Schritt.
Ravella stieß heftig die Tür auf und rannte die Stufen hinunter. Vom Fenster aus hatte sie gesehen, dass sie sich nach links halten müsste, denn rechts breitete sich die Lichtung aus.
Der Wald, in dem die Zigeuner lagerten, bestand aus hohen Kiefern, der Boden war mit Tannennadeln und Zapfen bedeckt. Ravella wandte sich nicht um, sondern rannte um ihr Leben. Sie hörte die Frau laut rufen. Eine Männerstimme antwortete, ein Kind schrie.
Sie lief weiter, ihre zarten Fußsohlen schmerzten, als sie auf die Zapfen trat. Gestrüpp zerkratzte ihr die Haut, aber der Wunsch, zu entkommen, war stärker als alles andere.
Die Stämme standen nun dichter, und das Unterholz behinderte sie. Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Ihr Atem kam nur noch stoßweise aus den geöffneten Lippen. Sie lief dennoch weiter. Einmal musste der Wald doch aufhören.
Die Rufe und das Geschrei hinter ihr waren nun völlig verstummt. Sie war erschöpft, und Seitenstiche machten ihr das Atmen schwer. Langsamer lief sie weiter und war verwundert, ihre Verfolger nicht mehr hinter sich zu hören.
Der Wald war so dicht, dass die Sonne kaum durch die Blätter drang. Ich muss mich beeilen, dachte Ravella verzweifelt. Ihr fiel ein, dass man sich in unbekanntem Gelände leicht im Kreise bewegte, also musste sie immer dieselbe Richtung innehalten. Vielleicht stieß sie dann auf eine Hütte und konnte um Hilfe bitten. Wieder wollte sie laufen, wurde aber durch Dornengestrüpp und mannshohe Brombeersträucher aufgehalten. Unmöglich, hier durchzudringen.
Sie versuchte sie zu umgehen, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Ein Zweig knackte, als ob ein Mensch darauf getreten sei. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, und sie zitterte am ganzen Körper. Jetzt kam erneut ein Geräusch aus einer anderen Richtung. Verzweifelt versuchte sie, wieder zu laufen, aber das Dornengestrüpp ritzte ihr die Haut, zerriss ihre dürftige Kleidung und machte ihr die Flucht unmöglich.
Nun kam ein Laut aus der Richtung vor ihr. Wieder knackte ein Zweig, und aus dem Laub flog ein erschreckter Vogel auf. Ihre Verfolger hatten sie in größter Stille eingekreist. Sie hörte sie von allen Seiten näher und näher kommen.
Wo gab es einen Ort, um sich zu verstecken? Der Boden war flach, nur mit Baumstämmen bestanden und von der wild wuchernden Masse der Sträucher bedeckt. Sie sank neben einem umgestürzten Stamm auf die Erde. Vergebens versuchte sie, unter ihn zu kriechen. Sie konnte sich nur noch niederducken und um ihre Rettung beten.
Doch Ravella wusste, dass ihre Lage hoffnungslos war. Die Menschen kamen näher. Sie hörte ihre Schritte und duckte sich noch tiefer. Da ertönte ein Pfiff. Man hatte sie gefunden.
Ein Junge stand vor ihr. Er war etwa sechzehn Jahre alt. Aus seinem Blick sprach die Erregung, die einen Mann packt, wenn er ein gejagtes Wild tötet. Langsam stand Ravella auf. Wie sie erwartet hatte, kamen mehrere Männer aus verschiedenen Richtungen auf sie zu. Alle starrten sie an. Instinktiv schützte sie ihre Brust unter der zerrissenen Bluse mit den Händen.
Sie war halb nackt. Schon vorher hatte die Kleidung, die man ihr angezogen hatte, kaum den Körper verhüllt. Jetzt war sie so aufgeschlitzt, dass sie gerade eben Ravellas Blöße bedeckte. Schweigend betrachteten die Zigeuner das Mädchen.
Obgleich Ravella es sich um nichts in der Welt anmerken lassen wollte, zitterte sie heftig. Irgendetwas in den glitzernden Augen der Männer
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