Gleichklang der Herzen
geschwungenen roten Lippen. Wie sehr musste sie den Herzog lieben, um dieser Liebe wegen vor nichts zurückzuschrecken!
Ihr schauderte. Jetzt begriff sie langsam, welche Wut sie durch ihren Besuch in Vauxhall erregt hatte, und nun verstand sie auch teilweise, was der Zigeuner gesagt hatte. Sie sollte an die Frau im Norden verkauft werden. Es gab nur einen Grund, warum eine Frau für junge und hübsche Mädchen bezahlte.
Obgleich Ravella völlig unschuldig und unerfahren war, gingen ihr jetzt die Augen auf. Sie glaubte, manche versteckte Andeutung, die sie den Gesprächen in der Londoner Gesellschaft entnommen hatte, nun besser zu verstehen.
Es gab Frauen, denen Männer Geschenke machten, sie mit Geld und Juwelen überhäuften, und es gab andere Damen, die sie heirateten. Ravella verstand den Unterschied nicht ganz, aber es war eine Tatsache. Eines wusste sie bestimmt, nämlich dass die Señorita keinen Heiratsantrag vom Herzog bekäme.
Wie töricht sie gewesen war! Zu Unrecht hatte sie sich indiskret in Dinge eingemischt, die sie nichts angingen. Nun wurde sie dafür bestraft.
Ravella ließ sich auf die Koje fallen. Sie weinte nicht, lag nur mit weit geöffneten Augen da und grübelte unablässig. Ihre Gedanken jagten sich im Kreis, brachten ihr weder Trost noch Hoffnung. Was würde aus ihr werden?
Am Abend brachte ihr die Zigeunerin nochmals Essen und Wasser. Ravella aß schweigend und legte sich wieder in die Koje. Es war noch hell, aber zu ihrer Überraschung ging die Frau bereits zu Bett. Sie zog sich nicht aus, kletterte nur in die obere Koje und legte sich hin. Vorher hatte sie die Tür abgeschlossen und den Schlüssel in den Ausschnitt ihrer Bluse gesteckt.
Ravella lag wach und horchte auf den Atem der Frau. Obgleich keine Luft von draußen in den Wagen gelangte, schien es ihr so, als würde es kälter. Sie war gezwungen, eine der zerlumpten Decken über ihren fröstelnden Körper zu ziehen. Alles tat ihr weh. Schließlich fiel sie nach längerer Zeit aus reiner Erschöpfung in unruhigen Schlummer.
Sie wachte durch die Erschütterung der rollenden Räder auf. Ravella öffnete die Augen. Die Koje über ihr war leer. Noch war es Nacht, und durch die trüben Fensterscheiben drang kein Tageslicht. Von Zeit zu Zeit entdeckte sie einen funkelnden Stern am dunklen Himmel.
Die Zigeuner waren also bei Nacht unterwegs und rasteten während des Tages. Sie hatte nun erfahren, dass sie nach Norden fuhren. Vergebens grübelte sie darüber nach, wie schnell sie wohl vorankämen und die Frau erreichen würden, an die sie verkauft werden sollte.
„Oh, Sebastian, komm und rette mich!“, flüsterte Ravella in der Dunkelheit.
Sie weinte hilflos, schlief dann nochmals ein und wachte auf, als der Wagen stand. Sie stieg auf den Hocker und spähte durch das Fenster. Wieder waren die Zigeuner um ein Lagerfeuer versammelt. Diesmal gab es keinen Wald, der Schutz bot. Nur ein kleines Gehölz erhob sich auf einer Seite. Dahinter erstreckte sich ein Weizenfeld.
Wieder brachte ihr die Frau zu essen und zu trinken. Der Tag schlich ereignislos dahin. Ravella zog die Einsamkeit dem Zusammensein mit ihrer Gefängniswärterin vor, da sie ihr Angst einjagte. Ihre schwarzen Augen verrieten Hass und Grausamkeit. Sicher war sie stolz auf ihre berühmte Tochter. Sie würde wohl nur zu gern einen Vorwand finden, um einen Menschen zu bestrafen, der ihre Tochter beleidigt hatte.
Die Leute, die beim Ball in Ranelagh die Señorita Deleta als Zigeunerin bezeichneten, hatten recht gehabt. Aber wer hätte gedacht, dass sie ihre Herkunft einem so primitiven Stamm verdankte? Kein Wunder, dass die Tünche der Zivilisation abblätterte, sobald es sich nicht mehr um Kleider und Schmuck handelte! Das war nur oberflächlicher Putz, den sie sich durch ihr Talent und ihre Schönheit verschafft hatte. Darunter lauerte ein Tier, das bereit war, mit allen Mitteln um die begehrte Beute zu kämpfen.
Gegen Abend beobachtete Ravella die Zigeuner, die am Lagerfeuer ihre Mahlzeit zubereiteten. Die Frauen hatten Vögel und andere Tiere geschlachtet und gerupft, die die Männer ihnen gebracht hatten. Dann warfen sie das Fleisch in einen großen Schmortopf, der auf einem Dreifuß über der Glut stand.
An diesem Abend hatten sie ein Huhn geschlachtet. Ravella sah die weißen Federn, die wie Schneeflocken auf dem Gras verstreut lagen, wo die Frauen das Huhn gerupft hatten. Einer der Männer hatte die Felle mehrerer Kaninchen geschabt und sie zum Trocknen
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