Gleichklang der Herzen
gezögert. Der Herzog brauchte sie. Sie betete nur darum, dass sie ihm beistehen könne.
Endlich war sie in der Hill Street angelangt. Dort wartete auch schon die Kutsche an der Ecke. Es war ein Einspänner und sah wie eine Droschke aus. Der Kutscher auf dem Bock schien fast eingeschlafen. Am Wagenschlag stand ein Mann, vermutlich ein Diener. Ravella lief auf ihn zu.
„Ich bin Miss Shane“, sagte sie. „Warten Sie auf mich?“
Statt einer Antwort öffnete der Diener den Wagenschlag. Ravella spähte ins dunkle Innere der Kutsche. Als sie noch zögerte, fühlte sie sich gepackt, hochgehoben und hineingestoßen. Sie schrie. Die Tür schlug zu, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Völlig fassungslos kauerte sie zunächst auf dem Sitz, richtete sich dann aber auf. Wieder schrie sie entsetzt auf, denn nun griffen aus dem Dunkel zwei Arme nach ihr. Vergebens wehrte sie sich gegen die Umklammerung. Dann fasste eine Hand sie unter dem Kinn, hob ihren Kopf und presste etwas gegen ihren Mund.
Jeder Widerstand war umsonst. Sie wurde brutal gezwungen, die Lippen zu öffnen und eine Flüssigkeit herunterzuschlucken. Wenn sie es nicht tat, wäre sie erstickt. Das Getränk war schwer, süßlich, Ekel erregend, aber sie musste Schluck für Schluck davon nehmen. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme erstarb. Irgendetwas Dunkles überwältigte sie. Sie versuchte, Sebastian zu rufen, aber der Laut erstickte in ihrer Kehle. Tiefer und tiefer versank sie ins Dunkle.
4. KAPITEL
Viele Stunden vergingen, bis Ravella spürte, dass Räder unter ihr rollten. Sie fühlte die rhythmischen Stöße. Sie lag ganz still, und langsam wich die Benommenheit aus ihrem Kopf. Es kam ihr so vor, als wären ihre Glieder aus Blei. Sie machte zaghaft den Versuch, sich zu bewegen. Dann kehrte die Erinnerung stückweise zurück.
Jetzt ordneten sich ihre Gedanken. Sie wusste wieder, dass sie zur Hill Street gegangen war, und auch weshalb. Dort hatte die Kutsche gewartet. Mit Grausen erinnerte sie sich an die widerliche Droge, die man ihr gegeben hatte. Mit der Hand berührte sie ihre Lippen. Sie waren wund und aufgerissen.
Wo war sie? Was war geschehen? Der Herzog war in Gefahr! Die Erinnerung überfiel sie mit aller Wucht. Er war in Gefahr, sie hatte ihn erreichen wollen, und das war misslungen. Das Geräusch der Räder dauerte an. Man entführte sie nach irgendwohin. Vielleicht zu ihm?
Mit großer Anstrengung öffnete Ravella ihre Augen. Ihr gegenüber war nichts als eine kahle Wand, über ihr war ebenfalls nur eine kahle Fläche aus Brettern. Sie fragte sich entsetzt, ob sie in einem Sarg läge. Hinter ihren Schultern entdeckte sie einen matten Schimmer. Mühsam wandte sie den Kopf in diese Richtung. War sie wach oder träumte sie?
Sie befand sich in einem Wohnwagen. Der kleine Raum schaukelte, wenn die Räder über unebenen Grund rollten. Sie lag in einer Koje, und über ihr befand sich anscheinend eine zweite. Der Raum enthielt einen derb gearbeiteten Tisch und zwei Hocker. An den Wänden hingen Körbe, Besen, bunte Lumpen, Pfannen, Bündel mit Zwiebeln und Kräutern und andere seltsame Dinge, die Ravella nicht kannte.
Das Wagendach war sehr niedrig. Eine Laterne war daran befestigt. Licht fiel indes durch zwei kleine Fenster mit roten Vorhängen an jeder Seite des Wagens.
Ravellas Kopf schmerzte unerträglich, dennoch bekam sie Körper und Geist wieder mehr in die Gewalt. Die Wirkung der Droge hatte sich so weit gelegt, dass sie einen Entschluss fassen konnte. Um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen, zwang sie sich, die Beine über den Rand der Koje hängen zu lassen und sich aufzurichten.
Träumte sie noch immer? Ihre Beine und Füße waren nackt. Sie trug einen zerlumpten, geflickten Rock. Ihr Kleid, ihre Unterröcke, ihr Hemd waren verschwunden. Man hatte ihr eine ärmellose, ebenfalls zerlumpte rosa Bluse angezogen. Der Schreck ließ sie aufspringen. Gegen Schwindel ankämpfend, stand sie vor der Koje, hielt sich fest und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Nein, das war kein Traum! Sie spürte die rohen Bretter unter ihren nackten Sohlen und die grobe Kleidung auf ihrer Haut. Das Haar fiel ihr wirr auf die Schultern. Kämme und Bänder waren verschwunden.
Schwankend begab sich Ravella zur Tür. Sie war abgeschlossen. Von Angst gepackt ging sie zu einem der hoch angebrachten Fenster, hinter dem sie nur den Himmel und Baumkronen sah. Man konnte es nicht öffnen. Das dicke Glas war fest in die hölzerne Wand gefügt.
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