Gleichklang der Herzen
den Boden geworfen. Ravella langte von der Koje aus danach. Als sie sah, dass die Frau in Begleitung eines Mannes hereinkam, stand sie auf und presste das zerlumpte Kleidungsstück gegen ihren Körper.
Jede Bewegung schmerzte fürchterlich, aber es gab Schlimmeres. Sie fürchtete sich, als sie den älteren Zigeuner erkannte, den sie für den Anführer hielt. Er betrachtete sie, und Ravella sah ihn aus tränenumflorten Augen an.
„Ich will mit Ihnen sprechen“, sagte er schließlich. Trotz seiner seltsam klingenden englischen Aussprache hörte Ravella den autoritären Ton heraus.
„Wollen Sie mir erklären, warum ich hier bin?“, fragte sie.
Er sah sich nach einem Stuhl um, und die Frau schob ihm eilig einen Hocker hin. Er setzte sich und stützte die Arme auf die Knie. Die Frau blieb stehen. Mit größter Anstrengung versuchte Ravella, Kraft und Mut zu zeigen. Es war schwer, denn sie fühlte sich fast nackt, ihre Haut auf dem Rücken war geplatzt, und das Blut fing gerade erst an, in den Wunden zu gerinnen.
„Sie wollten flüchten. Sie können nicht flüchten“, sagte der Mann.
„Wohin nehmen Sie mich mit?“, fragte sie.
„Nach Norden. Man wird Ihnen nichts tun und Sie nicht bestrafen, soweit Sie nicht noch einmal zu fliehen versuchen. Die alte Frau wird Sie weiter hier im Wagen behalten, und Sie werden tun, was sie sagt.“
„Aber warum führen Sie mich nach Norden?“
Der alte Mann sah sie an. „Sie haben Mut, darum werde ich Ihnen die Wahrheit sagen. Wir werden Sie an eine Frau verkaufen. Sie wird nicht unfreundlich zu Ihnen sein. Sie hat viele Mädchen, hübsche Mädchen um sich. Sie verstehen …“
„Nein, ich verstehe nichts!“, rief Ravella. „Wer ist diese Frau, und was will sie von mir?“
„Sie kennt Sie noch nicht, aber sie zahlt immer einen guten Preis für ein hübsches Mädchen.“
„Wissen Sie denn nicht, dass ich das Mündel des Herzogs von Melcombe bin? Sie haben mich entführt, betäubt und hierher gebracht. Der Herzog wird nach mir suchen. Man wird mich finden, und Sie werden zur Strafe deportiert.“
Ravella sagte das von oben herab, aber ihre Worte schienen den Anführer überhaupt nicht zu beeindrucken.
„Nein“, sagte er. „Man wird Sie nicht finden. Wir kennen Schleichwege, von denen andere keine Ahnung haben. Sie werden gehorchen und uns keine Unannehmlichkeiten bereiten. Im anderen Fall …“
Er senkte die Stimme und beendete die Drohung nicht.
„Was würden Sie mit mir anstellen?“, trotzte Ravella. „Mich umbringen?“
„Wir sind keine Mörder, aber mein Volk versteht sich auf sehr geheime Künste. Man kann das Gesicht verändern, zum Beispiel einen Nasenknochen entfernen, den Mund vergrößern, das Haar färben. Wer würde Sie erkennen? Wer könnte beschwören, dass Sie dasselbe schöne Mädchen sind, das mir bei Norwood zugeführt wurde?“
„Ich wurde Ihnen zugeführt?“, fragte Ravella schnell. „Wer hat mich zu Ihnen gebracht? Wer ist verantwortlich?“
Der Mann schwieg.
„Ist es Lord Wroxham?“
„Lord Wroxham?“ Er wiederholte langsam den Namen. „Nie gehört.“
Nun sah er die dicke Frau an, die schweigend dem Gespräch gefolgt war. Er redete mit ihr in der Zigeunersprache. Die Frau antwortete ihm. Ravella hörte angestrengt zu, verstand aber kein einziges Wort. Die Frau lachte, und auch der Mann lächelte. Dann wandte er sich wieder an Ravella.
„Sie werden dieser Frau gehorchen. Wenn nicht, wird sie Sie wieder schlagen wie vorhin zur Strafe für Ihre Flucht. Sie sagt, dass jeder Schlag eine Vergeltung für das gewesen sei, was Sie ihrer Tochter angetan haben.“
„Ihrer Tochter? Aber seit ich hier bin, habe ich weder ihre Tochter noch sonst irgendjemanden gesehen!“
„Ihre Tochter ist nicht hier“, sagte der Anführer. „Die alte Frau hat einen aus unserem Stamm geheiratet, aber sie gehört nicht zu uns. Sie ist Spanierin.“
Der hoch gewachsene Mann war aufgestanden, zog den Kopf ein, um durch die Tür zu gehen, und verschwand. Die Frau folgte ihm. Ravella hörte, wie sich der Schlüssel von außen im Schloss drehte.
„Ihre Tochter!“, wiederholte sie laut, und nun verstand sie.
Die Frau war die Mutter der Señorita Deleta. Sie war Spanierin. Ravella hätte fast schwören können, unter der hässlichen Fetthülle der Frau eine entfernte Ähnlichkeit mit der schönen spanischen Sängerin zu entdecken.
Im Geist hörte sie wieder die leidenschaftliche Stimme der Señorita, sah ihre blitzenden Augen, die
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