Gleichklang der Herzen
Kein Laut würde durch diese Fenster nach außen dringen.
Sie ging zurück zur Tür und schrie um Hilfe. Ihre Stimme war heiser, und sie litt an fast unerträglichem Durst. Sie schlug mit den Fäusten gegen die Tür, rief immer wieder um Hilfe, aber unerbittlich rollten die Räder und trugen sie weiter davon.
Erst nach mehreren Stunden hielt der Wohnwagen. Ravella hörte draußen Stimmen. Sie redeten in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Dann vernahm sie Gelächter und das Weinen eines kleinen Kindes.
Während der einsamen Stunden hatte sie dauernd gegen das Entsetzen angekämpft, hatte sich wieder und wieder gesagt, dass sie tapfer sein müsse. Zuerst war sie nur voller Zorn über die Schmach gewesen, die man ihr angetan hatte. Aber als niemand auf ihre Hilferufe achtete, als Schwäche und Übelkeit sie zwangen, sich wieder in die Koje zu legen, verflog der Zorn, und nur Elend und Furcht blieben übrig.
Auf dem Rücken liegend, grübelte sie hartnäckig darüber nach, warum man sie wohl entführt hatte. Sie erkannte nun, dass die Nachricht, die man ihr geschickt hatte, nur ein Köder gewesen war, um sie in die sorgfältig vorbereitete Falle zu locken. Aber warum?
Plötzlich glaubte sie, die Lösung gefunden zu haben. Lord Wroxham hatte es sich ausgedacht! Er wollte über sie verfügen. Obgleich sie entsetzt war, redete sie sich gut zu. Alles würde nur eine Frage der Zeit sein. Wenn man sie in Melcombe-Haus vermisste, würde der Herzog Nachforschungen anstellen. Seine Macht und sein Prestige würden eine gründliche Durchsuchung bei den Zigeunern bewirken oder bei anderen verdächtigen Individuen, denen man die Entführung einer reichen, jungen Frau zutrauen konnte.
Vielleicht waren jetzt schon Polizisten auf der Suche nach ihr. Diese Hoffnung flößte ihr so viel Mut ein, dass sie kampflustig und mit erhobenem Haupt dastand, als sich die Tür öffnete. Eine Frau trat ein. Sie war alt und fett, ihre Haut war dunkelbraun. Das schwarze Haar hatte sie in vielen Flechten um den Kopf gelegt. Sie trug eine rote Bluse und einen schmutzigen, schwarzen Rock.
Die Frau setzte eine Schüssel mit geschmortem Fleisch und einen gesprungenen Krug mit Wasser auf den Tisch. Dann stemmte sie ihre Arme in die Seiten und musterte Ravella von oben bis unten.
„Wer sind Sie, und warum bin ich hier?“, fragte Ravella.
Das Gesicht der Frau verriet nichts, nur der Blick aus den dunklen Augen jagte Furcht ein. Die Zigeunerin deutete auf die Schüssel, sagte nur: „Essen!“ und schlurfte davon.
„Warten Sie, warten Sie!“, rief Ravella, aber es war zu spät. Schon hörte sie den schweren Schritt der Frau auf dem hölzernen Treppchen, das zum Wohnwagen führte.
Ravella hatte Hunger. Es musste fast Mittag sein. Seit gestern hatte sie nichts gegessen. Misstrauisch beugte sie sich über die Schüssel, in der ein Löffel steckte. Das Gericht roch überraschend gut, und der Happen, den sie vorsichtig probierte, schmeckte ihr. Im Handumdrehen war die Schüssel mit dem Fleischgericht leer.
Als sie fertig war, schob sie einen Hocker unter das Fenster und stellte sich darauf. Das Fensterglas war schmutzig, aber als sie es mit der Hand abgerieben hatte, konnte sie nach draußen sehen. Auf einer Waldlichtung saß eine Anzahl von Menschen um ein Lagerfeuer.
Im Hintergrund waren die Wohnwagen aufgereiht, insgesamt ein Dutzend. Sie waren alt, mit Körben, Besen und anderen Geräten behangen, die die Zigeuner zum Verkauf anfertigten. Die Männer am Lagerfeuer hatten langes, dunkles Haar und sahen finster aus, soweit Ravella das aus der Entfernung feststellen konnte. Alte und junge Frauen, schlanke und dicke ergänzten die Runde. Kinder spielten auf der Lichtung. Sie waren barfuß und in Lumpen gekleidet. Das ungekämmte, lange Haar fiel ihnen auf die Schultern. Man konnte nicht unterscheiden, ob es Jungen oder Mädchen waren.
Lange betrachtete Ravella die Gruppe. Dann stieg sie vom Hocker herab, rückte ihn an den schäbigen Holztisch und setzte sich. Sie musste nachdenken.
Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was man den Zigeunern nachsagte. Die Bauern fürchteten sie, weil sie Diebe und Wilderer seien, denen man besser aus dem Weg ginge. Wenn man sie jedoch vom eigenen Land vertrieb, würden sie sich rächen. Nun fielen ihr auch die Namen verschiedener Stämme ein: die Loveridge, Finch, Hather und Heron. Sie zogen auf einsamen, oft nur ihnen bekannten Wegen über Land.
Ravella fragte sich verzweifelt, ob man sie
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