Gleis 4: Roman (German Edition)
bei Véronique fügte sie hinzu, dass sie die Frau des Mannes sei, der auf dem Bahnhof gestorben war.
Oh, sagte Sarah in schlechtem Französisch, das tue ihr leid, ihre Mutter habe ihr davon erzählt.
»Merci, c’est gentil«, antwortete Véronique und fügte dann hinzu, sie könne auch englisch sprechen, if you prefer.
Sarah lachte und sagte: »Yes, please. My French is not too good.«
Ob sie nicht mit ihnen essen wolle, sagte Isabelle zu Sarah, es gebe Bio-Lachs, und sie habe sehr reichlich eingekauft, den Reis habe sie noch gar nicht aufgesetzt, da sie den Fisch niedergare, und das dauere noch etwas.
Sarah hatte sich zwar vorgenommen, heute Abend Völkerrecht zu lernen, das sie für die nächste Prüfung brauchte, denn sie hatte schon den Nachmittag ausgelassen, wegen der Ausstellung, die morgen zu Ende ging, aber es war so ungewöhnlich, ihre Mutter mit dieser Frau hier zu sehen, der Frau, die mit der seltsamen Geschichte zu tun hatte, welche ihrer Mutter passiert war, dass sie beschloss, hierzubleiben. Vielleicht, dachte sie, konnte sie ja auch nach dem Essen, wenn die Kanadierin gegangen wäre, mit ihrer Mutter über das sprechen, weswegen sie eigentlich hierhergekommen war.
10
Sie beneide sie schon ein bisschen darum, dass sie studieren könne, sagte Véronique zu Sarah, sie selber habe bloß die Ausbildung zur Primarlehrerin gemacht, vier Geschwister seien sie gewesen, der Vater Buchhändler mit einem eigenen Laden, ständig im Kampf ums Überleben, die Mutter habe in einem Kinderhort gearbeitet, da sei der finanzielle Spielraum nicht groß gewesen, und sie habe auch darauf geachtet, möglichst bald unabhängig zu werden.
»Und warum Jurisprudenz?« fragte sie Sarah.
Das könne sie auf zwei verschiedene Arten beantworten, sagte Sarah. Die erste sei die, dass sie Menschen, denen Unrecht getan wurde, zu ihrem Recht verhelfen möchte, also Opfern von Gewalt, Missbrauch oder Betrug, Menschen, die sich selbst nicht wehren können oder die Möglichkeiten dazu nicht kennen. Gerade gestern sei in der Zeitung die Geschichte eines Mannes geschildert worden, der in seiner Kindheit in einem Kloster von einem sadistischen Pater furchtbar gequält worden sei, und der beim Versuch, die heutige Klosterschule zur Rechenschaft zu ziehen, gescheitert sei. Für so jemanden würde sie sich gerne einmal einsetzen, das sei ja das Letzte, in unserm viel gerühmten Land.
Véronique nickte. »Und die zweite Antwort?«.
»Dass ich möglichst viel verdienen möchte«, sagte Sarah, und ein Lächeln ließ ihre zwei schneeweißen Zahnreihen sehen.
»Mit Opfern?«, fragte Isabelle.
»In der Wirtschaft. Joint Venture-Verträge internationaler Firmen und so. Verstöße von Multis gegen Regeln eines Landes. Habt ihr mal gehört, um welche Summen es da geht? Da werden Bußen von 400 Millionen verhängt, in der EU oder in den USA . Bei solchen Rechtsfällen musst du als Anwalt dabei sein, dann hast du bald einen goldenen Arsch.«
»Na, na«, sagte Isabelle, »und das interessiert dich wirklich?«
»Warum nicht?«, antwortete Sarah, »ein Freund von mir arbeitet jetzt in einer Zuger Kanzlei, dort, wo all die Holdings sitzen, von Glencore an aufwärts, die schwimmen im Geld, kann ich euch sagen.«
»Das musst du selbst wissen«, sagte Isabelle, »wenn du mich fragst, ich finde, dein Arsch ist auch ohne Gold schön genug.«
Die drei Frauen lachten, Isabelle schenkte noch etwas Weißwein nach und fragte, ob sich jemand für das letzte Stück Lachs interessiere. Véronique winkte ab, Sarah sagte, sie nehme es schon, wenn es sonst niemand wolle.
Während sich Sarah mit Genuss über ihr Supplément hermachte, sagte Véronique, dieser Lachs sei wirklich ausgezeichnet geraten, und immerhin komme sie aus einer Gegend, wo man sehr viel Lachs esse. Bei ihnen werde er allerdings meistens gebraten oder grilliert, aber das Niedergaren werde sie sich merken.
Dann seufzte sie und sagte leise, bloß für wen – but for whom?
Alle drei schwiegen einen Moment.
Sarah kaute ganz langsam weiter, da war aus dem Bade zimmer der Klingelton eines Handys zu hören. »Ist das deins?« fragte Sarah. Isabelle verneinte. »Is it yours?« Véronique schüttelte den Kopf.
»Dann lass mich mal«, sagte Sarah, stand auf und ging ins Badezimmer.
Sie sprach so laut, dass man jedes Wort ihres Gesprächs im Wohnzimmer hörte.
»Wer sind Sie?- Geben Sie mir Ihre Nummer! – Was Sie wollen, ist mir scheißegal. – Hören Sie sofort auf, meine Mutter zu
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