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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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vorderhand.
    Doch, den Schulleiter sollte sie anrufen, wegen der Dauer ihrer Abwesenheit, das musste sie sich für den Nachmittag vormerken, denn Kanada hinkte der Schweizer Zeit um sechs Stunden nach.
    Véronique seufzte. Sie hatte keine Erfahrung im Verwitwen. Gab es hier noch etwas, das sie tun musste, außer auf die Asche ihres Mannes zu warten?
    Was sie bedrückte, war die Geschichte mit Martins früherer Pflegefamilie, und dass diese Geschichte nun auf Isabelle übergegriffen hatte, mit den unangenehmen Anrufen. Hatte sie die Möglichkeit, darüber noch irgendetwas in Erfahrung zu bringen?
    Die Tante. Die musste über die Familie Bescheid wissen, und von ihr würde sie endlich auch etwas über Martins Jugendzeit erfahren. Wieso hatte er ihr nie mehr von ihr erzählt? Sie wusste nicht einmal ihren Namen. Die wenigen Male, da sie ihn mit ihr am Telefon sprechen gehört hatte, hatte er sie nur »Tanti« genannt. War ihre Nummer in seinem Adressbüchlein, das sie nicht bei seinen Effekten im Hotel gefunden hatte? Wahrscheinlich hatte er es in der Hast des Aufbruchs zu Hause liegen gelassen. Nach dem Frühstück würde sie nochmals Martins ganzen Koffer durchsuchen, er sollte sich doch irgendwo aufgeschrieben haben, wo sie wohnte. Dass er sie nicht besuchen wollte, wenn er in Zürich war, schien ihr unwahrscheinlich. Ob sie allerdings in Zürich wohnte, wusste sie nicht. Aber bestimmt in der Schweiz, etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen.
    Diese Adresse würde auch Isabelle helfen.
    Isabelle. Wie gut, dass sie bei ihr sein durfte.
    Der Abend gestern, mit Isabelles Tochter, das war wie bei einer langjährigen Freundin gewesen, wäre ihr bloß nicht ständig in den Sinn gekommen, weshalb sie hier war. Es fiel ihr schwer, das als Wirklichkeit anzuerkennen, und nicht als einen Traum zu sehen, aus dem sie irgendeinmal wieder erwachen würde.
    Sie legte den Eisbären ans Kopfende des Bettes, stand auf und sah auf dem Schreibtisch die Zeichnung, die der Schüler gestern gemacht hatte. Erstaunlich gut war sie, beide waren sie darauf zu erkennen. Sie war wie eine Bestätigung, dass sie wirklich in Zürich war. Sie stellte das Papier an die Tischlampe und legte einen Radiergummi davor.
    Eigentlich, überlegte sie sich, könnte sie Isabelle auch hassen. Wäre sie nicht in der Unterführung gestanden, anmutig und etwas hilflos, hätte er ihr nicht den Koffer die Treppe hinaufgetragen und wäre noch am Leben. War nicht sie letztlich schuld an Martins Tod?
    Auf einmal schlich sich ein hässlicher Verdacht in ihre Gedanken. Stimmte es überhaupt, was ihr Isabelle erzählte? Martin war am Sonntagmittag in Zürich angekommen und am Montagvormittag gestorben. Isabelle wohnte im selben Viertel, in dem das Hotel stand. Hatte er sie am Abend vorher zufällig kennengelernt, mit ihr die Nacht verbracht und sie dann zum Flughafen begleiten wollen? Das wäre auch ein Grund für ein Herzversagen, und Isabelle war ein Typ von Frau, der Martin gefiel, da war sie sicher. Isabelles Darstellung der Begegnung mit Martin war in keiner Weise überprüfbar, und dann wäre ihre Hilfsbereitschaft nichts als eine Folge ihres schlechten Gewissens. War sie nicht unsicher geworden, als sie sie gefragt hatte, woher Martin gekommen sei?
    Véronique zog ihren Morgenmantel über ihr Pyjama, schaute sich im Spiegel neben der Tür kurz an und strich ihre Haare zurecht. Sie würde sich zwingen, Isabelle so zu begegnen, als kenne sie sie nicht.
    Doch das war ihr nicht möglich.
    Isabelle hatte in der Küche ein Frühstück bereit gemacht, kam auf sie zu und küsste sie.
    »Bonjour, ça va avec le jet lag?«
    Sogleich schämte sich Véronique ihres Verdachts, denn hier sprach ohne Zweifel keine Lügnerin.
    Sie spüre ihn schon noch, den Jetlag, sagte sie, und fügte dann hinzu, vielleicht sei es ebenso ein death lag, denn Martins Tod sei immer noch nicht wirklich bei ihr angekommen, im Traum sei sie heute mit ihm Bus gefahren.
    Das tue ihr leid, sagte Isabelle, fragte dann, ob Café au lait für sie in Ordnung sei, was Véronique bejahte, hielt ihr das Körbchen mit den Croissants hin, die sie heute Morgen in der Bäckerei geholt hatte, und dann frühstückten sie eine Weile schweigend.
    Bei der zweiten Tasse Kaffee fragte Isabelle Véronique, ob sie heute noch etwas erledigen müsse, und diese erzählte ihr die Geschichte mit dem Totenschein, den sie offenbar faxen sollte. Das könne man von der Post aus machen, sagte Isabelle, und als Véronique

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