Gleis 4: Roman (German Edition)
wollen nicht, dass sie irgendjemand erfährt.«
Isabelle trug die Teller ab und brachte dann Schalen mit Fruchtsalat. Es kam kein Gespräch mehr auf.
Als Sarah ihre Mutter fragte, ob sie heute hier übernachten könne, erfuhr sie, dass Véronique bei ihr zu Gast war.
»Und sie schläft in meinem Zimmer?«
»In deinem früheren Zimmer, Sarah.«
Natürlich, dachte Sarah, ich bin ja ausgezogen. Aber sie merkte erst jetzt, was das bedeutete. Ihre Mutter konnte über ihr Zimmer verfügen, als hätte sie nie darin gewohnt.
11
Als Véronique erwachte, wusste sie nicht gleich, wo sie war. Sie hielt einen großen Stoffeisbären im Arm, und ein Seelöwe blickte sie an, der auf einer Klippe in der Meeresbrandung saß. Sie drehte den Kopf und sah den Schwanz eines Walfisches, der in die Tiefe abtauchte.
Die Poster hingen in Sarahs Zimmer, das ihr Isabelle zum Übernachten angeboten hatte, und den Eisbären hatte sie sich gestern Nacht von einem Regal geholt, als sie sich verlassen und elend fühlte. Gerade noch war sie im Traum mit Martin in einem Bus gesessen, der durch eine endlose Ebene fuhr, und hatte sich seltsam geborgen gefühlt, doch nun wusste sie wieder, es gab keinen Martin mehr, der Platz neben ihr war leer und würde leer bleiben.
Bevor sie weinen musste, stellte sie das Kuscheltier auf das Regal, stand auf, kurbelte die Jalousien hoch und blickte zum Fenster hinaus. Es war Tag, und durch einen leichten Dunstschleier schien die Sonne. Über den Dächern sah sie das Hotelhochhaus, in dem sie nach ihrer Ankunft gewohnt hatte, daneben ein zweites Hochhaus mit farbigen Ringen zuoberst an der Fassade, weiter entfernt hohe Kamine, mit roten Streifen bemalt, aus beiden stiegen Rauchfahnen, und an beiden blinkten Warnlichter. Das sollte die Schweiz sein?
Sie setzte sich auf den Bettrand und stützte ihren Kopf in die Hände. Halb neun. Die Zeitumstellung war ihr noch nicht gelungen. Lange hatte sie wach gelegen gestern, und wäre sie nicht vom unausweichlichen Drang zur Toilette geweckt worden, hätte sie sich jetzt sofort wieder umdrehen können, um weiterzuschlafen. Als sie leise die Tür öffnete und zum Badezimmer ging, duftete es in der Wohnung bereits nach Kaffee, und Isabelle streckte ihren Kopf aus der Küche.
»Bien dormi?«
»Plus ou moins, merci.«
Véronique verschwand im Bad, und Isabelle rief ihr nach, sie brauche sich nicht zu beeilen.
Wieder im Zimmer, legte sie sich nochmals einen Moment hin, nahm den Stoffeisbären mit beiden Händen an ihre Brust und dachte darüber nach, was sie heute noch tun musste.
Ihre Geschwister hatte sie vor ihrer Abreise in die Schweiz informieren können, und ihr älterer Bruder hatte sie vorgestern Abend auf ihrem Handy angerufen, um zu hören, was genau passiert sei. Den Club der pensionierten Schiffsangestellten, in dem Martin seine Kollegen traf, hatte sie gestern von Zürich aus erreicht, sein Freund Percy, den sie gut kannte, war schockiert und wollte es fast nicht glauben. Auch Frédéric vom Reisebüro »Grands tours«, bei dem Martin seinen Flug gebucht hatte und der auch Véroniques Flug organisiert hatte, war fassungslos gewesen. Er hatte sie dann zurückgerufen, um ihr zu sagen, sie bekomme von der Airline etwas von Martins Retourticket zurückerstattet, diese verlange aber einen Totenschein. Ob sie ihm den faxen könne? Man hatte ihr auf dem Bestattungsamt eine Kopie davon gegeben, doch beim Auschecken hatte sie nicht mehr daran gedacht. Sicher wusste Isabelle, von wo aus sie das am besten tun könnte.
Bei der Aussicht, noch länger im Hotel bleiben zu müssen, in dem Martin logiert hatte, war sie gestern auf einmal von einer Panik gepackt worden, hatte Isabelle angerufen, und diese hatte sie sofort samt ihrem und Martins Gepäck abgeholt und zu sich nach Hause gebracht.
Ob man die Kreditkarte sperren lassen musste, wenn jemand starb? Aber die Karte war bei ihr, und ein Toter konnte nicht unterschreiben. Musste man das Einwohneramt von hier aus benachrichtigen? Die Rentenkasse? Die Lebensversicherung, in die er bis zuletzt Prämien einbezahlt hatte? Ob die auch den Totenschein per Fax wollten? Aber sie hatte gar keine Nummer bei sich, die lag sicher zu Hause bei Martins Unterlagen. Eine Todesanzeige für die Zeitung? Nous avons le regret d’annoncer le décès de … Wir haben die schmerzliche Pflicht … Das hatte alles Zeit bis nach ihrer Rückkehr. Mit Angéline, ihrer besten Freundin, hatte sie gestern lange telefoniert, das genügte ihr
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