Gleitflug
rührte.
Angelieks runde Wangen sahen wie erstarrt aus.
»Komm, Meike, machen wir’s uns einen Moment gemütlich«, sagte Onkel Fred. Er legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie zu Willems Sofa. Gieles warf einen Blick auf ihre schwarzen Plateauschuhe. Sie waren so hoch, als hätte jemand Holzklötze unter ihre Sohlen montiert. Als sie sich setzte, klirrten alle Ketten und Schlösser an ihrem Körper.
»Kannst dir denn nicht denken, wie wir in Sorge waren?«, brach es aus Angeliek heraus. »Einfach so wegzulaufen. Der Papa und ich sind fast gestorben vor Angst.« Sie begann zu weinen. Ihrem Mann lief der Schweiß übers Gesicht.
Ihre Tochter drehte den Kopf weg. Sie starrte die Katze mitder Elster an und verzog die schwarz angemalten Lippen zu einer bösen Grimasse.
»Und wie schaust nun aus. Wer soll das sein. Houdini?«
» HUDINI ?«, brüllte Meike. Willem zuckte vor Schreck zusammen. Onkel Fred und Gieles kannten ihre Sirenenstimme schon.
» WER IST HUDINI, SCHEISSE NOCH MAL ?«
»Bitte«, protestierte Hannie vorsichtig. »Wir sind hier zu Gast …«
» ICH BIN MEIKE, FALLS IHR’S NICHT WISST, MEIKE UND KEIN VERSCHISSENER HUDINI !«
»Meike«, sagte Onkel Fred unerwartet streng. »Ein bisschen Gas zurücknehmen, bitte.«
Das tat sie, aber sie konnte Angeliek ihren Hass auch wortlos entgegenschleudern.
»Wir lassen euch einen Augenblick allein«, sagte Willem und eilte aus dem Zimmer, so schnell er konnte.
Onkel Fred und Gieles gingen in die Küche, Willem nach draußen, um etwas an seinem Wagen in Ordnung zu bringen. Fünf Minuten lang hörte man nichts, dann fing Meike wieder an zu brüllen.
Sekunden später kam Hannie aus dem Haus und gesellte sich zu Willem. In seinem Sweatshirt hatten sich Schweißflecken vom Durchmesser eines Fußballs gebildet. »Diese Schreierei ist doch nicht normal«, sagte er verschreckt.
»Ach«, entgegnete Willem. »Was ist schon normal? Mein Sohn nimmt Gänse mit ins Bett.«
»Die da? Alle drei?«, fragte Hannie. Er zeigte auf die Gänse, die über den Campingplatz watschelten.
»Nein, nur die weiße, die kleine. Er hängt sehr an ihr. Tag und Nacht schleppt er sie durch die Gegend. Mein Sohn kann sehr gut mit Gänsen umgehen«, fügte Willem stolz hinzu. Siebeobachteten die Vögel, bis ein weiteres Flugzeug den Erdbeerbauern in Angst und Schrecken versetzte.
»Setz dich doch ins Auto«, schlug Willem vor. »Dann siehst du sie nicht.«
Hannie stieg ein, knallte die Tür zu und griff mit beiden Händen in sein Haar. Mit den Ellbogen stützte er sich auf die Oberschenkel. Er schluckte, um ein Aufstoßen zu unterdrücken. »Mein Gott, ist das warm.«
»Soll ich die Klimaanlage anstellen?«
»Ja, bitte.« Er richtete sich auf und rülpste. »Entschuldigung. Ich weiß nicht, was ich habe. Muss die Anspannung sein.«
Willem hielt ihm ein Papiertaschentuch hin, aber Hannie hatte sich zum Beifahrerfenster gedreht. Ängstlich spähte er hinaus, als befürchte er, ein Flugzeug könne sich ins Auto bohren.
»Möchtest du ein Taschentuch, Hannie?«
»Auf dem Hof nennen mich alle Arrie, außer meiner Frau. Sie findet den Namen Hannie schön, aber ich nicht. Ich bin nach meinem Vater, Großvater, Urgroßvater benannt, sie hießen alle Hannie, obwohl es gar kein Name aus der Gegend ist. Zum Glück haben wir ja ein Mädchen bekommen. Auch wenn ich in letzter Zeit manchmal denke: Hätten wir doch einen Jungen. Ich verstehe Mädchen nicht.«
Er starrte auf die Schweißflecken an seiner Hose. »Wir hatten im letzten halben Jahr so viele Probleme mit Meike. Von einem auf den anderen Tag wurde sie komisch. Furchtbare Ausbrüche. Angeliek nennt das Kurzschlüsse im Gehirn. Dabei war sie früher so sportlich. Man würde es nicht vermuten, aber sie war sehr gut in Leichtathletik.«
»Nein, das würde man nicht ohne weiteres vermuten«, murmelte Willem und schaltete den MP 3-Player ein. Warnrufe einer Lachmöwe schrillten über den Hof.
»Eine Möwe?«, fragte Hannie, offensichtlich beeindruckt. Erhorchte aufmerksam, während er seine Hände wieder an der Hose abwischte.
Willem nickte und wechselte zu dem kläffenden Ruf von Dohlen. Erwartungsvoll schaute er den Erdbeerbauern an.
»Dohlen.« Hannie sprach das Wort missbilligend aus. »Wie Ratten, man wird sie nicht los.«
»Stimmt«, sagte Willem und entdeckte Vogelkot auf der Windschutzscheibe. Mühsam unterdrückte er den Wunsch, sofort einen Eimer Wasser und einen Schwamm zu holen. Er legte Wert auf einen sauberen
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