Gleitflug

warf ihr eine Handvoll Spekulatius hinein, sie kam mit gestrecktem Hals auf ihn zu. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, ging er über die Wiese zum Raumschiff. Er überlegte, ob die alten Leute vielleicht noch schliefen. Die Gartenstühle waren zusammengeklappt. Zwischen ihren Beinen hatte eine Spinne ein Netz gewebt, in dem Tautropfen glänzten.
    Plötzlich wurde die Aluminiumtür aufgestoßen.
    »Gerard!«, sagte der alte Mann, der einen dunkelblauen Morgenmantel trug. Sein Haar war akkurat gescheitelt und erinnerte an Lametta. »Was führt dich an diesem herrlichen Tag zu mir?«
    »Ich komme wegen der Alben. Aber vielleicht ist es noch zu früh.«
    »Nicht doch!«, rief Johan und klappte den Tritt aus, mit einer Geste, als würde er einen roten Teppich ausrollen. »Für Flugzeugunglücke ist es nie zu früh. Komm herein!«
    Drinnen roch es muffig nach Schlaf. Er hoffte, die Tür würde offen bleiben, aber das Raumschiff wurde wieder luftdicht geschlossen.
    »Nimm Platz.« Johan zeigte auf die kleine Essecke vor der Küchenzeile. Dort flackerte ein Elektrokamin. Die Einrichtung wirkte ziemlich normal im Vergleich zu dem High-Tech-Äußeren des Wohnwagens. Die Schranktüren und Wandverkleidungen waren aus beigefarbenen Spanplatten. Der braune Vorhang, der den Schlafraum abtrennte, sah verschlissen aus.
    Johan setzte sich neben Gieles und drehte sich mühsam zu einem Einbauschränkchen hinter der Sitzbank um. Gieles hörte seine Knochen knacken, als er ein Album herausnahm.
    Wieder das gleiche Ritual. Johan hielt einen kurzen Vortrag, bevor er das Album aufschlug. 1982-1986 stand auf dem blauen Umschlag.
    Er hatte einen Band übersprungen. Die Unglücke vor 1982. Gieles wagte aber nicht, ihn zu unterbrechen. In diesem Stadium traute er sich auch nicht mehr zu sagen, dass er nicht Gerard hieß.
    Johan redete und redete, fröhlich, wie andere alte Leute über ihre Enkel sprachen.
    Air-Florida-Flug 90: streifte während des Starts eine Brücke über den Potomac und stürzte in den zugefrorenen Fluss.
    Air-Canada-Flug 797: Aus einem kleinen Feuer in der Nähe der hinteren Toiletten entstand ein Flammenmeer.
    Air-India-Flug 182: Bombenexplosion, dreihundertneunundzwanzig Tote. »Terroristen gab es immer schon, Gieles.«
    Erst als Johan die letzte Seite kommentiert hatte und mit dem nächsten Album anfangen wollte, fand Gieles den Mut, ihn zu unterbrechen. »Sie haben die Crashs von 1977 bis 1981 vergessen.«
    Johan warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.
    »Beim letzten Mal waren wir bis 1976 gekommen.«
    Der alte Mann drehte sich wieder knackend zu dem Schränkchen um und sah die Albenreihe durch. »Verflixt noch mal«, knurrte er. »Alles durcheinander. Das war meine Frau.« Er schaute auf den geschlossenen Vorhang. »Judith! Hast du meine Alben in den Fingern gehabt?«
    Es blieb still.
    Brummelnd schlug er den Band 1977-1981 auf. Ausführlich berichtete er von der Flugzeugkatastrophe von Teneriffa, der größten überhaupt in der Geschichte der zivilen Luftfahrt. In seinen Mundwinkeln sammelte sich Speichel. Es roch mittlerweile säuerlich im Raumschiff.
    Gieles’ Blick wanderte zu dem Vorhang, hinter dem wohl Johans Frau lag, und dann zu der Wanduhr über dem Elektrokamin. Halb neun. In zwei Stunden musste er beim Pumpwerk sein. Heute war der Tag seiner Tischtennisvorführung mit Wallie.
    Anscheinend merkte Johan, dass Gieles nicht mehr bei der Sache war. Jedenfalls schlug er plötzlich mit der Hand auf den Tisch. »… und diese sowjetische Tupolew«, sagte er mit lauter Stimme, »endete am 5. Oktober 1979 nicht weit von hier auf dem Polder. Dreißig Tote.«
    Gieles war wieder ganz Ohr, er beugte sich über die Seiten. Auf einem unscharfen Schwarzweißfoto sah er einen Traktor mit einem Anhänger, auf dem gerettete Passagiere saßen. Im Hintergrund lag das in zwei Teile gebrochene Flugzeug.
    Landwirt Cittersen van Boven bringt Überlebende in Sicherheit stand unter dem Foto. Gieles’ Herz schlug schneller.
    Während Johan mit vielen technischen Details den Ablauf des Unglücks erläuterte, versuchte Gieles die vergilbten Zeitungsausschnitte zu lesen.
    ES WAR GOTTES WILLE, DASS WIR HELFEN KONNTEN , stand in riesigen Buchstaben über einem Bericht. Im Reden blätterte Johan um (»der Flugschreiber war so stark beschädigt, dass die Aufzeichnungen unbrauchbar waren«), und Gieles sah ein ebenfalls unscharfes Foto von einem Mann und einem Jungen, die verwirrt in die Kamera blickten. Der Mann trug eine Mütze und