Gleitflug
aus Versehen einen Blick zuwarf, war es einer von der kältesten Sorte.
»Ich habe eine Überraschung für Mama«, erklärte er ein wenig freundlicher. »Es ist was, das ich zu Hause vorbereiten muss.«
In den letzten Jahren war das Abholen immer auf die gleiche Weise vor sich gegangen. Gieles und Onkel Fred erwarteten sie vor den undurchsichtigen automatischen Schiebetüren, die einen Passagier nach dem anderen herausließen. Meistens kam sie allein durch diese Türen, manchmal war auch noch jemand dabei, mit dem sie sich unterhielt. Das hasste er. Dass ihr Blick nicht sofort ihn suchte. Er wollte der Erste sein, den sie sah.
Willem stand immer vor dem Terminalgebäude, vor dem ihr Flugzeug abgestellt wurde. Er konnte sie durch die Fensterchen der Maschine nicht sehen, aber darum ging es auch nicht. Er wartete dort wie ein Lotse, der sie sicher in den Hafen bringen wollte. Sobald die Fluggastbrücke mit der Maschine verbunden war und sich mit Passagieren füllte, fuhr er nach Hause, um da zu sein, wenn sie kam.
Von diesem Ritual wichen sie jetzt ab. Diesmal war alles anders. Diesmal wartete Gieles nicht vor den Schiebetüren. Diesmal hatte seine Mutter ein Loch im linken Oberarm. Die Kugel war herausoperiert worden.
Plötzlich stand Meike vor dem Sofa. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid, das er noch nie gesehen hatte. Der Stoff glänzte, als wäre er triefnass, als hätte sie mit dem Kleid in der Badewanne gesessen. Meike schenkte ihm ihren eisigsten Blick. Nichts an ihr erinnerte noch an eine Fledermaus oder an eine kleine Hexe. Die Träne war gut getarnt. Meike sah blendend aus. Sie nahm ihre Indianertasche mit dem Tabak vom Sofa und drehte sich ruckartig um. Bevor sie verschwand, hatte er Gelegenheit, ihren nackten Rücken mit schwarzen Schnüren davor zu betrachten. Auf dem Schulterblatt klebte immer noch ein rundes Pflaster. Gieles hätte am liebsten diese Schnüre aus dem Latexstoff gezerrt. Er empfand heftige Wut und Zuneigung zugleich.
Bald würde sie in ihm einen Helden sehen. Nicht, dass er wie ein Held aussah, aber auch Captain Sullenberger war nicht gerade eine Sexbombe. Mit seinem grauen Bürstenschnurrbart wirkte er eher wie ein gutmütiger Hausmeister kurz vor der Rente. Trotzdem bewunderte ihn die ganze Welt. Er hatte den ultimativen Gleitflug hingelegt.
Gieles warf einen letzten Blick auf den Teletext und ging dann in sein Zimmer. Aus der Schreibtischschublade nahm er eine Schere und weißes Klebeband. Er hatte an alles gedacht. Auf dem Tisch lag eine Kopie des Briefes an Christian Moullec. Er hatte ihn immer wieder gelesen, um eine Antwort darin zu finden. Onkel Fred meinte oft, die Antwort liege schon in der Frage, aber er hatte keine entdeckt.
Zugegeben, Sully hätte nie im Leben Gänse zu einer Startbahn gelockt. Wenn Gieles’ Heldentat einmal verfilmt wurde, musste dieser Teil der Rettungsaktion natürlich geheim bleiben. Aber Sully verstand überhaupt nichts von Gänsen. Gieles war Gänsetrainer. Im Grunde ein Schüler von Moullec. Er wusste, was er tat. Und warum sollte man dem Glück nicht ein bisschen auf die Sprünge helfen dürfen? Die Menschen machten das seit Urzeiten. Sophia hatte Ide dazu gebracht, die Toten zu berauben, weil sie glücklich sein wollte. Diese Geschichte war nicht so gut ausgegangen, deshalb wollte er jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Trotzdem, was war dabei, wenn er seinem Glück – und dem seiner Eltern! – einen kleinen Schubs gab? Ihre Beziehung war doch offensichtlich in Gefahr.
Gar nichts ist dabei .
Er strich mit dem Finger über das Klebeband. Für den letzten Buchstaben, das E, hatte der Platz fast nicht mehr gereicht, und die Os sahen eher wie missglückte Quadrate aus. Aber als Ganzes und aus einiger Entfernung waren die Wörter gut lesbar. Zufrieden klappte er den Schirm zu, auf, zu. Sein Alibi war wasserdicht.
12:00 Uhr.
Im Internet checkte er noch einmal die Ankunftszeiten. Flug 9321 flog genau nach Plan. Wahrscheinlich schwebte seine Mutter gerade irgendwo über Osteuropa. Mit Verband. Der Knochen war nicht verletzt, ein Wunder bei ihren mageren Armen. Auf den Reisen nahm sie immer so stark ab, dass sie ausgemergelt zurückkam.
Gieles steckte den Beutel mit den neuen Kekskugeln in seinen Rucksack. Dreißig hatte er gestern Abend im Waschbecken gerollt. Danach war der Abfluss verstopft gewesen. Aber die Kugeln glänzten wie das Fell von Fischottern. Sie waren erstaunlich gut gelungen.
Im Vorspann von Gieles’ Film musste »nach
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