Gleitflug
schluckte er Speichel. Er hatte an diesem Morgen nicht gefrühstückt.
Er versuchte sich abzulenken, betrachtete die Gegend. Weideland, saftig und grün. Unter einem grauen Himmel, in dem da und dort ein wenig Blau sichtbar wurde. Leuchtend roter Mohn und weiße Apfelblüten. Was hier nicht hingehörte, waren er und die Deicharbeiter. Er fühlte sich schmutzig.
Sie näherten sich Lisse. Frauen mit Kindern flüchteten sich in die Häuser. Abgesehen von einem einzigen Mann war keine Menschenseele mehr auf den Straßen. Der Mann sah vornehm aus, er trug Hut und Anzug und erinnerte Ide an Sophias Vater. Anders als sein eigener Vater hatte der Arzt noch nie die Selbstbeherrschung verloren. Würde und innere Haltung waren in Ides Augen das Höchste, was der Mensch erreichen konnte. »Haltung«, murmelte er.
Der Mann am Straßenrand stand jetzt mit einem Fuß in der Tür eines Ladens, mit dem anderen noch auf dem Gehweg. Neugier schien seine Furcht zu besiegen. Ide hoffte, dass die anderen ihn in Frieden ließen.
Sie waren inzwischen wohl an die fünfhundert Mann. Von allen Hüttensiedlungen rund um den See mussten sie gekommen sein.
Ide hatte schon einmal von Streiks gehört, aber nie an einem teilgenommen. Und jetzt war er mittendrin. Aufgeregt war er nicht. Das Ganze ließ ihn kalt.
In einiger Entfernung waren nun die Hütten der Belgier zu sehen. Zwanzig, fünfundzwanzig armselige Katen, genauso wacklig wie die in ihrer eigenen Siedlung. Ausgeschlossen, dass die Belgier mehr verdienten. Sie kamen näher. Auch hier nahmen die Bewohner wie die Kakerlaken Reißaus.
Ide ging immer langsamer und war bald wieder am Schluss des Zuges, wo es stiller war. Die Männer trotteten vor sich hin, der Schlamm saugte an ihren Stiefeln.
Als Ide zwischen den Hütten der belgischen Arbeiter ankam, war das wenige zerstört, das es hier zu zerstören gab. Er sah zerbrochene Stühle, zerrissene Hemden, zerfetzte Körbe, durcheinandergeworfenen Hausrat. Bis auf das gedämpfte Weinen von Frauen und Kindern war es still. Sie versteckten sich in ihren Behausungen. Ide konnte ihre Angst und ihren Hass durch die Wände und Schilfdächer spüren. Wieder schämte er sich.
Im Schlamm lag ein Hocker, dessen Beine nicht abgeschlagen waren. Er wollte ihn hinstellen, aber dann fiel ihm ein, wie lächerlich das wäre. Also ließ er ihn liegen. Er sagte sich, dass auch alles Schlimme irgendwann ein Ende hatte. Das tat er von Kindesbeinen an. Die blauen Flecken seiner Mutter vergingen von selbst wieder, wie die Wutanfälle seines Vaters.
Ide hatte genug, er wollte nichts mehr sehen, aber nun durchquerte ein Hund sein Blickfeld. Das Tier schwankte, Blut floss aus seiner Schnauze. Noch bevor Ide eine Erklärung dafür einfiel, kamen zwei Männer hinter dem Hund her, der eine schlug ihm den Schädel ein. Das Schaufelblatt machte beim Auftreffen ein dumpfes Geräusch.
Sie trotteten weiter. Nach einer Viertelstunde fanden sie die belgischen Deicharbeiter. Ide blieb zurück und lehnte sich an einen Baum, horchte auf das Geräusch Hunderter von Stiefeln im Schlamm. Die Belgier waren bei der Arbeit. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen und seinen eigenen Leuten, dachte Ide. Sie gruben denselben Ringkanal und warfen denselben Deich auf. Auch sie waren nur Verlängerungen ihrer Schaufeln. Nicht mehr als das. Ohne Herz, ohne Seele, ohne Vergangenheit oder Zukunft. Wer tot zusammenbrach, hatte eben Pech. Oder Glück, das kam auf den Standpunkt an.
Ein Junge blieb neben ihm stehen. Nicht viel älter als er selbst, schätzte Ide. Sein schmales Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck. Seine Wangen schienen wie nasse Watte auf seinen Jochbeinen zu hängen.
»Hoffentlich können wir morgen wieder an die Arbeit«, sagte der Junge. Er betrachtete eingehend den Himmel. Dabei presste er die Hände an die Stirn, schob sie zurück in die Taschen und wiederholte die Geste. Bei jeder Bewegung verströmte er einen talgartigen Geruch.
Sie hörten Geschrei. Die Belgier hatten aufgehört zu graben und standen nun dicht zusammengedrängt. Sie waren bei weitem in der Unterzahl. Inzwischen verhandelten vier Vorarbeiter mit den wütenden Anführern des Aufstands.
»Meine Mutter sagt, Gott wird Vergeltung üben für das Trockenlegen«, fuhr der Junge hastig fort. »Sie sagt, Gott schafft Land, nicht der Mensch. Deshalb wird er uns bestrafen.«
»So ein Unsinn«, erwiderte Ide lachend. Er setzte sich ins nasse Gras und legte die Unterarme auf die Knie. Der Junge folgte
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