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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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sich an, als drücke ein Felsen darauf. Sie stolperte ins Freie, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie fing den Regen in ihrem Mund auf.
    Minutenlang blieb sie so stehen. Nur der Regen war zu hören, er übertönte alles andere.
    Als ihre Kleider klatschnass waren, ging sie wieder hinein.Aus ihrem Koffer nahm sie einen Rock, der sich klamm anfühlte; an trockene Sachen war in dem Sieb, in dem sie hausten, nicht zu denken. Dann schaute sie nach, ob der doppelte Boden noch unbeschädigt war; unter dem Karton bewahrte sie das Geld, das sie mit den gestohlenen Lebensmitteln verdiente. Sie verkaufte sie für einen Pappenstiel an die Hüttenbewohner.
    Sie zog sich um. Trocknete ihr Gesicht. Stellte draußen Eimer und Töpfe auf, um den Regen aufzufangen. Versuchte die Ritzen im Dach mit Schilf und Zweigen zu dichten. Fachte ein Feuer an. Wusch sich die Hände. Rührte Teig. Mahlte Kaffee. Setzte Wasser auf. Summte, schwitzte. Es war friedlich in der Hütte, bis die Friesin vor ihr stand. Mit den schwarzen Tränensäcken unter den Augen erinnerte sie an einen Leprakranken. Sie setzte sich breitbeinig auf einen Hocker. Ihr Bauch hing schwer zwischen ihren Beinen.
    »Ich hab keinen Kaffee«, sagte Akkie.
    Schweigend brühte Sophia Kaffee. Dabei musterte sie kritisch ihr Gegenüber.
    »Kuck nicht so.«
    »Warum, wie denn?«, fragte Sophia herausfordernd.
    »Böse. Wüsste nicht, was für einen Grund du hast.«
    Sophia stocherte ungeduldig im Feuer. »Was du gestern Abend gesagt hast. Über dein Kleines.«
    Akkie schaute sie verwundert an. »Über mein Kleines? Was hab ich denn gesagt? Kann mich an nichts erinnern.«
    »Dass es dir tot lieber wäre als lebendig.«
    »Ach, Mädel«, antwortete die Friesin gutmütig. »So mein ich’s doch nicht. Es ist nur, meine Mutter hatte sechzehn Bälger und einen Nichtsnutz von Mann. Dann kannste gut auf ein paar verzichten. Verstehst du? Wie viel Kinder hat deine? Zehn? Fünfzehn?«
    Sophia hörte auf zu stochern und starrte in die Flammen.»Sie hat nur mich. Meine Eltern haben nur mich, und sie waren glücklich, als ich zur Welt kam.«
    Wieder dieses nagende Schuldgefühl. Wie ein Dieb in der Nacht hatte sie sich davongeschlichen, und bis heute hatte sie nichts von sich hören lassen. Bestimmt suchte ihr Vater sie längst.
    »Wenn deine Alten nur dich haben, ist es ganz was anderes«, sagte Akkie ohne Überzeugung.
    Sie schwiegen eine Weile. Der Regen ließ nach. Die ersten Frauen und Kinder verließen die Hütten.
    »He. Ich mein’s nicht so.«
    Sophia reichte ihr eine Schale. Geistesabwesend blies die Schwangere in den Kaffee.
    Das warme Getränk gab ihren Wangen wieder ein wenig Farbe.
    »Die Männer«, begann Akkie, erleichtert, weil ihr etwas eingefallen war, worüber sie reden konnte. »Wusstest du’s schon?«
    Sophia zog fragend die Schultern hoch.
    »Die sind unterwegs. Werden’s den Belgiern zeigen.«
    Die Männer zogen zum nächsten Dorf weiter. Ide wusste nicht, ob man sich abgesprochen hatte oder wie es sonst zu erklären war, jedenfalls tauchte plötzlich eine weitere Gruppe von Arbeitern auf. Mindestens ebenso viele. »De Kaag, De Kaag«, wurde geraunt, »die Männer von De Kaag.«
    Im Näherkommen begrüßten sich die beiden Gruppen johlend. Sie verschmolzen einfach zu einem größeren Rudel; in Armseligkeit war man einander ebenbürtig.
    Ide Warrens ging nun nicht mehr am Schluss, sondern eher in der Mitte. Die Gesichter der Dorfbewohner entlang ihres Marschweges spiegelten die Macht der Horde. Die Menschen fürchteten sich vor ihr. Immer noch überragte Ide alle anderen. Wegen seiner Größe war er ein auffälliges Ziel, überlegte er und senkte den Kopf.
    Es regnete jetzt kaum noch. Er wollte wieder arbeiten, doch heute war an Verdienst wohl nicht mehr zu denken.
    Vor ihm schimpfte und fluchte man lautstark auf die Dienstherren und die Vorarbeiter. Die gehörten totgeschlagen. Sie bezahlten zu wenig. Sie zogen den Arbeitern Strafgelder vom Lohn ab, für Sachen, für die keiner etwas konnte. Sie ließen einen Dreck fressen, während sie sich selbst mit Gänseleber mästeten.
    Ide holte tief Luft und stellte sich das frischgebackene dunkle Brot seiner Mutter vor. Er konnte es schmecken, den Weizen, das Salz. Die weiche Butter und ihre selbstgemachte Hagebuttenmarmelade. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er stellte sich den Herd vor, der später in ihrem Bauernhaus stehen würde, und einen Hahn in der Bratröhre. Um das Hungergefühl zu vertreiben,

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