Gleitflug
antwortete sie und biss in den Arm, der um ihren Hals lag. »Manchen Kindern wird an solch einer Schule ein Stück vom Ohr abgerissen. Oder man macht sich einen besonderen Scherz, wirft einen mit Erbsen gefüllten Vogelbalg unter die Kinder, und wer den aufhebt und zurückbringt, bekommt eine Tracht Prügel.«
Sie leckte über die Zahnabdrücke in Ides Haut. »Salzig«, sagte sie. »Ich schmecke das Meer.«
»Einmal habe ich eine Schüssel Salz ins Meer geworfen«, sagte Ide.
»Was sollte denn das?«
»Ich weiß nicht. Ich war klein, vielleicht wollte ich wissen, ob ich das Meer salziger machen kann.«
Gegen Abend gingen sie zur Siedlung zurück, wo das übliche Saufgelage schon in vollem Gang war. Streitsucht lag in der Luft. Ide ging zu seiner Kolonne, Sophia zu Akkie. Die Friesin saß mit anderen Frauen vor ihrer Hütte. »Sofietje!«, rief sie mit zittriger Stimme und klopfte auf die Holzbank. »Ssetz dich.«
Sophia gehorchte und trank einen Schluck von dem ihr angebotenen Schnaps. »Was ist los?«
»Krach, Scherereien«, sagte Akkie verächtlich. Sie beugte sich zu Sophia hin. Ihre roten Augen schielten, so betrunken war sie. »Die Drecksbelgier ham sich ’n paar von unsern Männern geschnappt.« Sophia versuchte, dem stinkenden Atem auszuweichen. »Und jetz nehm sich unsre Männer die Drecksbelgier vor.«
Sophia schaute zu den Männern hinüber. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie noch in der Lage waren, sich zu prügeln. Sogar ihre Mützen hingen schlaff herunter. In einiger Entfernung versuchte ein Kerl an einen Baum zu pinkeln, aber der Strahl reichte nur bis zu seinen Stiefelspitzen. Der einzige Nüchterne war Ide Warrens. Aber keiner machte dumme Bemerkungen darüber. Der große Ide war zu stark, als dass man sich mit ihm hätte anlegen wollen.
»Die Drecksbelgier singn schmutzije Lieder über uns«, lallte Akkie. Speichel lief ihr über das Kinn. »Über unsre Fotzen. Sie sagn, wir wärn Huren … und sie glaum, sie wärn was Bessers, weil sie mehr Geld kriegn, und die Drecksbelgier …«
»Du solltest nicht so viel trinken«, unterbrach Sophia sie ärgerlich.
»Nich so vie trink … achahach!« Akkie lachte spuckend.
Sophia wischte sich das Gesicht ab. »Ja, das ist schlecht für dein Kleines.«
»Soofietje!«, brüllte Akkie. »Du muss wirklich noch viel lern, haha. Schlecht für dein Kleines! Habter dat gehört? Wär mir tot lieber wie lebendig. Wenn das Balg ein Leben kriegt wie ich, dreh ich ihm besser gleich den Hals um … Drecksbelgier!«, schrie Akkie. »Saubande!«
Die anderen Frauen lachten und tranken, bis die ersten Regentropfen fielen und alle in ihre Hütten flüchteten.
Wegen des starken Regens könne nicht gearbeitet werden, hieß es am nächsten Tag. Es war früh am Morgen, die Männer hatten sich vor den Hütten versammelt. Dichte Reihen, wie die Schichten einer Zwiebel. Im Inneren der Zwiebel rief jemand: »Wir jagen die Belgier zum Teufel!« In den äußeren Schichten wurde zustimmend gejohlt. Ide hielt den Mund. Erwusste, dass er nicht zurückbleiben konnte, aber er hatte nicht vor, sich zu beteiligen. Er würde mitgehen und wegschauen. Nicht, dass er feige war, ihm stand nur der Sinn nach anderen Dingen.
Entschlossen machten sich die Männer auf den Weg, eine Meute in schlammigen Jacken und Stiefeln. Viele hatten Knüppel und Schaufeln. Und natürlich Schnaps. Immer Schnaps. Etwa zweihundert waren es, die in Richtung Lisse gingen, dort, so hieß es, waren die Belgier.
Sie kamen an Gehöften, Landhäusern und Knechtshütten vorüber. Die Menschen dort starrten sie ängstlich an. Die Bauern wussten nicht, was geschehen würde, trotz ihrer Armseligkeit flößten ihnen die Poldermänner Furcht ein. Jeder Dummkopf konnte sehen, dass sie nichts zu verlieren hatten.
Ide blieb am Schwanz des Zuges, so hatte er alles im Blick. Er sah die Männer in den vorderen Reihen, sie gingen nicht, sie marschierten. Vor ihnen tauchten Kirchtürme und Gemüsegärten auf. Einige der Männer zertrampelten Beete und stopften sich alles Essbare in den Mund und in die Taschen. Ide schämte sich für die anderen und schaute zum Horizont.
Sophia hatte Ide nicht weggehen hören. Sie trank mit den Frauen, bis der Regen kam, anschließend fiel sie in einen betäubungsähnlichen Schlaf. Ein Gefühl von Kälte und Nässe weckte sie. Als sie aufstand, stellte sie fest, dass ihr Strohsack durchweicht war. Das Dach der Hütte war wieder undicht. Sie fluchte vor sich hin.
Ihr Schädel fühlte
Weitere Kostenlose Bücher