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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Flugzeuge. Zuerst hörte er ein hohes Pfeifen, begleitet von tiefem Brummen. Wenn das Flugzeug an Dollys Haus vorbeiraste und aufstieg, wurde aus dem Geräusch eine Art Lärmwelle, die sich donnernd auf dem Asphalt brach.
    »An dem Tag, bevor Evert starb, hat er gesagt, ich soll Klebstoff und Toilettenpapier kaufen. Einen Monat lang hab ich jeden Tag eine Tube Kleber und eine Packung Toilettenpapier gekauft.«
    Schnipp, schnipp.
    »Es ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwann hab ich auf einen Einkaufszettel geschrieben, was ich nicht kaufen musste. Keinen Klebstoff. Kein Toilettenpapier.«
    Sie lachte. So kannte es Gieles nicht von ihr. Ihr Lachen klang meistens bissig, dieses war lieb.
    »Dein Haar ist so widerspenstig, dass es trotz Schneiden stehen bleibt.«
    »Tut mir leid«, sagte Gieles.
    »Du Spinner. Wenn meine Ungeheuer in ein paar Jahren so sind wie du, dann hab ich sie richtig erzogen.«
    Sie beugte sich über ihn und kontrollierte die Haarlänge an den Ohren. Der rote Lippenstift war verblasst. Blauer Lidschatten hatte sich in den Falten über ihren Augen angesammelt. Gravitation benutzte schwarzen Lippenstift. Das sah aus, als hätte jemand ein Loch in ihr Gesicht geschossen. Er überlegte, ob er es wagen würde, dieses Loch zu küssen. Er wusste wenig über sie. Auch nicht, wo sie wohnte. Nur, dass ihre Eltern Erdbeeren anbauten. Sie hasste ihre Eltern, die Schule und Erdbeeren, viel mehr wusste er nicht.
    Schnipp, schnipp.
    »Sind die Jungs brav ins Bett gegangen?«
    »Ja. Keine Probleme.«
    »Sie gehen immer brav ins Bett, wenn du da bist. Bei mir ist es ein einziger Kampf.«
    Dolly ging zum Tisch und nahm ein kleines Messer aus einem Lederetui.
    »Den Kopf mal nach vorn.« Das Messerchen schabte über seinen Nacken.
    »Den ganzen Tag geht’s einigermaßen. Und wenn ich gerade denke, wir hätten ihn ohne nennenswerte Komplikationen überstanden, passiert doch noch was.«
    Gieles schluckte. Das Schaben klang scheußlich.
    »Dann lässt einer ein Glas runterfallen, oder sie schlagen oder treten sich … Irgendwann explodiere ich einfach … und dann … ich sehe, dass sie Angst vor mir haben … und der Tag, an dem bis dahin alles gutgegangen war, ist am Ende doch hin … Ich meine … ich gehe immer mit einem miesen Gefühl schlafen.«
    Er kniff die Augen zu und hoffte, dass Dolly aufpasste, was sie tat.
    »Dann bin ich so unglaublich wütend auf Evert. Er kann nichts mehr falsch machen. Er wird immer ihr Held sein. Ihr großer, toter Held.«
    Sie löste das Cape und pustete die Härchen von seinem Nacken.
    »Mach mal so.« Sie schüttelte den Kopf, dass ihre schwarzen Haare flogen. Er gehorchte.
    »Siehst wieder gut aus«, sagte sie zerstreut und schaute nachdenklich auf den Boden. Auch Gieles blickte auf den Boden, auf dem beunruhigend viel Haar lag. Erschrocken befühlte er mit beiden Händen seinen Kopf. Aber es schien halb so schlimm zu sein.
    »Gieles?« Sie strich mit den Händen über ihre dunkle Hose und lehnte sich so schwer an den Schrank, als ob sie die Tür eindrücken wollte. »Hast du manchmal Angst vor mir?«
    »Angst?« Langsam ließ er die Hände sinken und spürte wieder die Furcht, die er vor ein paar Monaten empfunden hatte. Er war zum Babysitten gekommen, die Haustür stand offen, er ging hinein. Im Badezimmer hörte er Dolly toben. »Du kleiner Dreckfink! Sieh mal, was du gemacht hast!« Dann ein lautes Klatschen. Er ging wieder hinaus und klingelte. Noch eine Stunde später zeichnete sich Dollys Handabdruck auf Skiqs Wange ab.
    »Natürlich nicht«, antwortete er. »Nie.« Dolly wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte, das sah er ihr an.

12
    Gieles hatte ziemlich viel Geld in Spekulatius investiert. Zwanzig Packungen, mehr hatte der Supermarkt nicht im Regal gehabt, aber vorläufig reichte das. Schmunzelnd schob er zwei Packungen in seinen Rucksack, die übrigen versteckte er unter dem Bett.
    In der Küche schmierte er sich eine Scheibe Brot als Abendessen, während die kleine Gans Wasser aus dem Hahn trank. Ihr Schnabel blieb dabei halb geöffnet, und ein paarmal hielt sie mit sichtlichem Vergnügen ihren Kopf in den Strahl. Gieles hatte das Reich für sich allein. Onkel Fred war bei einem seiner Leseclub-Abende mit niederländischer Lyrik. Gieles’ Vater musste sich um einen Riesenschwarm von Staren kümmern. Vor einer knappen Woche erst hatte er welche verjagt, aber sie waren in Massen zurückgekommen. Der Schwarm war inzwischen auf etwa fünfzigtausend Vögel

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