Gleitflug
außer ihren Dreadlocks, die dauernd die Farbe wechselten. Erst waren sie violett, dann rot, dann pechschwarz, wie ihr Augen-Make-up und die Lippen. Der reinste Gobstopper. Die Augenbrauen hatte sie in Stacheldrahtform nachgezeichnet. Das fand er creepy. Wie für eine Halloweenparty. Aber er hütete sich, das zu schreiben.
Er beeilte sich. Dolly hasste es, wenn er zu spät kam. Die farblose Haustür stand weit offen. Am Tisch saßen die beiden älteren Jungen neben einem Berg Wäsche und malten. Der kleine Jonas watschelte in Pampers durchs Zimmer, er hatte ein Plastikeichhörnchen im Arm. Gieles setzte sich zu den Jungen und schob die Wäsche zur Seite. Die Handtücher und Bettlaken hatten die gleiche Schmuddelfarbe wie die Gartenstühle. Weiß mit kleinen grauen Flecken. Die Jungen sagten nicht viel, sie waren ganz in ihre Bilder versunken. Skiq hatte eine Art Traktor mit einem komischen Schneemann darauf gemalt.
Dolly kam ins Zimmer und strich ihm zur Begrüßung über das statisch aufgeladene Haar. Sie hatte sich die Lippen rot gemalt. Er stellte sich Sophia Warrens’ Brüste vor, wie sie aus demHemd flutschen und über sein Gesicht rieben. Schon mehrmals hatte er Ides Platz eingenommen. In einer seiner letzten Fantasien, unter der Dusche, hatte Sophia am Seeufer die nackten Schenkel für ihn gespreizt.
»Die Jungs sind fasziniert von einem dicken Mann, der am Haus vorbeigefahren ist«, erklärte Dolly. »Er saß auf so einem Wägelchen, wie Fred es hat.«
»Ein Elektromobil«, sagte Gieles erschrocken. Jonas stand neben ihm und streckte die dünnen Ärmchen nach ihm aus. Der Kleine sprach kaum ein Wort. Gieles hob ihn auf seinen Schoß. Zufrieden benagte der Junge den Schwanz des Eichhörnchens.
»Er war dicker als der Mond«, sagte Freek.
»Gar nicht wahr!«, rief Skiq. »Aber er hatte einen Bauch wie …« Skiq schaute sich im Wohnzimmer um und zeigte dann: »… wie der Sitzsack. Er war ein fetter Sitzsackmann.«
Dolly und die Jungen lachten.
»Campt er bei euch?« Sie stand so nah neben ihm, dass er ihren Geruch wahrnahm. Es verwirrte ihn.
»Er heißt Waling Cittersen van Boven.« Gieles bemühte sich um eine vornehme Aussprache.
Sie schaute ihn verdutzt an und wiederholte mehrmals konzentriert den Namen, als würde sie unregelmäßige Verbformen auswendig lernen. Dann schlug sie plötzlich auf den Tisch. Die Jungen rutschten vor Schreck mit ihren Filzstiften aus.
»Ich hatte Geschichte bei einem Waling Cittersen van Boven! In den letzten Schuljahren! Aber der war höchstens acht Jahre älter als ich, und … meine Güte, er war schlank und sah wahnsinnig gut aus. Alle Mädels waren scharf auf ihn. Ich auch.«
Sie machte ein schelmisches Gesicht. »Waling konnte großartig erzählen. Wenn es ums Haarlemmermeer ging … es war ganz seltsam, man hatte das Gefühl, selbst dabei gewesen zu sein. Als hätte man den See eigenhändig trockengelegt.«
»Das ist er!«, rief Gieles begeistert. »Super Waling weiß alles über die Pumpwerke, ich bin mit ihm zum …«
»Super Waling? Was ist das für ein schwachsinniger Name«, unterbrach sie ihn spöttisch. »Der dicke Kerl kann unmöglich mein Waling sein.«
»Ich bin mir fast sicher, dass er es ist.« Gieles widersprach ihr sonst nie, aber aus irgendeinem Grund fühlte er sich jetzt gekränkt.
Dolly schaute auf die Uhr und rannte nach oben.
Jonas nagte immer noch an dem Plastik und atmete mit einem sägenden Geräusch. Seine Brüder waren jetzt damit beschäftigt, den Schneemann auszumalen.
Es ärgerte ihn. »Macht was anderes«, sagte er und nahm ihnen die Zeichnungen weg. Sie schauten ihn fassungslos an. »Es ist nicht nett, jemanden so zu malen.«
»Aber er war wirklich so dick!«, rief Skiq.
»Ihr könnt Flieger falten.«
»Dürfen wir nicht«, erklärte Freek. »Mama hasst Flugzeuge.«
Skiq stand wütend auf und begann gegen das Sofa zu treten. Jetzt rutschte Jonas von Gieles’ Schoß und schlug mit dem Eichhörnchen gegen den Stuhl.
Dolly kam wieder ins Zimmer, ihre Wangen waren gerötet. Sie reichte Gieles ein Klassenfoto. Auf einem Schulhof aufgenommen. Zwischen den Mädchen mit Ohrringen und den Jungs in Jacketts mit wattierten Schultern erkannte Gieles ihn sofort. Er trug eine schwarze Lederjacke und ein weißes Hemd. Sein Gesicht war gebräunt, der Körper schlank. In nichts glich dieser Waling dem Super Waling von heute, aber seine Augen verrieten ihn.
»Da siehst du, dass ich recht habe«, sagte sie und beugte sich über
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