Gleitflug
Gieles.
Wieder dieser betörende Geruch.
Sie strich mit dem Zeigefinger über das Foto. »Eigentlich hater uns eher etwas über das Leben beigebracht. Waling gab einem das Gefühl, dass man einzigartig war, wichtig. Er nahm einen ernst. Er hörte einem zu, als ob man der wichtigste Mensch auf der ganzen Welt wäre.«
Ärgerlich richtete sie sich auf. »Dieser Fettsack kann im Leben nicht mein Lehrer sein.«
Sie küsste ihre Söhne auf den Kopf. »Seid brav und esst eure Teller leer.« Dann schlüpfte sie in ihre Jacke und wandte sich an Gieles. »In der Küche steht ein Topf Nudeln. Du brauchst sie nur aufzuwärmen. Um neun bin ich wieder da.«
Die Jungen waren auffallend ruhig. Sie aßen ihre Nudeln mit Tomatensoße, moonwalkten ein bisschen durchs Zimmer und gingen ohne Geschrei ins Bett.
Gieles versuchte Hausaufgaben zu machen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Das Foto mit Super Waling als hübschem Geschichtslehrer lag auf dem Tisch.
Er steckte es in seinen Taschenkalender und betrachtete Skiqs Zeichnung. Die schneemannartige Figur bestand aus zwei Kreisen übereinander, aus denen winzige Beine und Hände herausragten. An den unteren Kreis hatte Skiq noch einen kurzen Strich als Pimmel angehängt.
SITSACKMANN stand darunter. Gieles zerknüllte das Blatt und warf es weg. Langsam ging er die Treppe hinauf und legte sich auf Dollys ungemachtes Bett. Er versuchte sich auf den Lärm der Flugzeuge zu konzentrieren, um die kreisenden Gedanken loszuwerden. Als er das Hochzeitsfoto betrachtete, fiel ihm ein, dass Dollys Mann vielleicht dort gestorben war, wo er selbst jetzt lag. Mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch ging er wieder nach unten und schaltete den Fernseher ein.
Um halb zehn kam Dolly nach Hause. Wie immer später als angekündigt. Gieles war auf dem Sofa eingeschlafen. Sie lächelte. »Du siehst aus wie ein Hippie mit diesem wilden Haar. Dasmuss dringend mal geschnitten werden. Komm her«, sagte sie und schob ihn mit sanfter Hand auf einen Stuhl. Noch leicht benommen wartete er ab, während Dolly in der Küche hantierte. Sie kam mit einem Umhang zurück, den sie ihm um den Hals band, und befeuchtete seine Haare mit Wasser aus einer Pflanzensprühflasche. Es roch nach Reinigungsmittel. Dann kämmte sie ihn, hastig, als befürchte sie, einer der Jungen könne aufwachen.
Sie begann zu schneiden. Ein nasses Büschel blieb an seiner Wange kleben. Sie wischte es weg, er schloss die Augen. Der Reinigungsmittelgeruch war verschwunden, er roch Dolly. Er fragte sich, wie Gravitation riechen mochte. Geruch war wichtig, sehr wichtig. Der Geruch und die Augen. Wenn jemand hässliche Augen hatte, nützte das schönste Gesicht nichts. Sie hatte ihm einmal geschrieben, dass sie ihre Dreadlocks nicht mit Shampoo waschen dürfe, höchstens mit ein bisschen Seife.
»Dreadlocks«, begann er, obwohl er nicht genau wusste, was er eigentlich fragen wollte. »Hast du manchmal welche …«
Dolly hörte auf zu schneiden, als hätte das Wort sie erschreckt. Sie verzog das Gesicht. »O nein, bloß nicht! Damit misshandelt man das Haar.«
»Ah.«
»Nein, Dreadlocks wären das Letzte, was ich jemandem machen würde. Das wird ein einziger, trockener Filz.«
»Au!« Offenbar hatte sie mit der Schere seine Ohrmuschel erwischt.
»Entschuldigung.« Sie inspizierte sein Ohr. »Ist noch alles dran«, sagte sie und wühlte kurz mit den Fingern durch sein Haar.
»Bei schwarzen Kindern finde ich Dreadlocks noch okay. Ihr Haar ist auch geeignet dafür. Kraushaar hat eine grobe Struktur. Aber du«, sagte sie glucksend, »du hast dünnes Haar. Komisches, widerspenstiges, dünnes Haar. Trotzdem immer nochbesser als diese unmöglichen Haarwirbel, die meine Jungs haben. Evert hatte auch solche Wirbel.«
Schweigend schnitt sie weiter. Die Schere schnippte wütend.
Schnipp, schnipp, schnipp.
Gieles konnte sich kaum an Dollys Mann erinnern, obwohl er seit höchstens einem Jahr tot war. Er hatte immer nur gearbeitet. Und beim Straßenfest meistens schweigend Fleisch gegrillt.
»Everts Haar saß immer unmöglich.«
Schnipp, schnipp, schnipp, schnipp.
»Ein einziges Mal hab ich sein Haar in Form bekommen, das war, als er gestorben ist.«
Schnipp, schnipp.
»Lächerlich. Der Sarg wurde vor der Trauerfeier geschlossen. Kein Mensch hat ihn so gesehen.«
Schnipp.
Gieles wusste nicht, was er sagen sollte. Sobald Erwachsene über diese Dinge sprachen, verschwamm alles in seinem Kopf. Er konzentrierte sich auf die startenden
Weitere Kostenlose Bücher