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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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in seiner Stirn schwoll blaurot an.
    »Ich glaube, wir sind irgendwo hier«, sagte er und umkreiste mit seinem Finger mehrere Vierecke. »Was steht da?«
    Ide bückte sich und betrachtete die abgegriffene Karte, die aussah, als hätte sie lange in der Erde gelegen.
    Er musste jeden Buchstaben einzeln erfassen. »Sektionen«, murmelte er. Sophia hatte ihm das Lesen beigebracht, aber es fiel ihm nicht leicht. »Sektionen.« Er hatte keine Ahnung, was das Wort bedeutete. In Vierecken zwischen feinen, schnurgeraden Linien standen Zahlen, die er kaum erkennen konnte. Der Bauer reichte ihm die Karte und blickte sich um.
    Ide schaute wieder auf das Papier mit den Hunderten von genau gleich großen Parzellen. Ihm wurde schwindelig. Die Zeichnung stimmte ganz und gar nicht mit der Unordnung überein, die vor ihm lag. Soweit das Auge reichte, sah man Gesträuch und die verdammte allgegenwärtige Wegwarte. Er starrte auf die Karte und wünschte sich, sein Leben wäre auch so übersichtlich.
    »Dort ist das Dampfpumpwerk«, wisperte der Bauer und rieb sich die grauen Stoppeln.
    Ide kniff die Augen zusammen. Die Erhebung am Horizont hätte auch ein Schiffsmast oder ein Kirchturm sein können, aber er widersprach nicht.
    »Wenn da das Pumpwerk ist … dann müssen wir hier sein.« Ide zeigte nach Gefühl auf ein Rechteck, in dem 27 stand. Sophia hatte ihm die Zahlen nur bis sechzig beigebracht. »Älter werden wir ohnehin nicht«, hatte sie sehr bestimmt gesagt. »Haben Sie Nummer 27?«
    »Könnte sein«, antwortete der Bauer gleichgültig. »Fangen wir an, bevor uns die Mücken fressen.«
    Ide schnitt die dicksten Äste weg, der Bauer versuchte mit dem Pflug das Schilf zu kappen, aber vergebens.
    »So geht’s nicht«, sagte er. Nach fünf Schritten war die Pflugschar stecken geblieben. »Wir müssen zuerst alles mit der Hand machen.«
    Ide spürte die Ungeduld stärker als sonst. Sollte der Kampf denn nie enden? Wenn sie sich diesen Boden nicht gefügig machten, wurden seine Landschaften auch in hundert Jahren noch nicht Wirklichkeit.
    »Es kommt nicht auf den Boden an«, sagte der Bauer, als könne er Ides Gedanken lesen. »Es kommt darauf an, was man damit anstellt.« Sein Gesichtsausdruck verriet wie meistens keinerlei Gefühle. Bis sich seine dünnen Lippen wieder öffneten. »Herrgott noch mal«, fluchte er. »Das Pferd sinkt ein.«
    Ide drehte sich zur Seite. Tatsächlich, die Stute sank ein. In wilder Angst warf sie den Kopf hin und her und sperrte die Nüstern weit auf. Sie versuchte sich aufzubäumen, aber statt die Beine aus dem Schlamm zu ziehen, arbeitete sie sich nur noch tiefer hinein. Bis zu den Mittelfüßen steckte sie schon fest. Der Bauer lief auf sie zu.
    »Gleich versinken Sie auch!«, warnte Ide.
    »Und wenn schon, ich habe nur zwei Gäule.«
    Einen Moment lang wusste Ide nicht, was er tun sollte, dann rannte er hinter dem Bauern her und umklammerte ihn mit eisernem Griff, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Seine Kehle brachte ein verzweifeltes Tschilpen hervor, als wäre ein kleiner Vogel dort eingesperrt. »Warrens! Lass mich los, verflucht noch mal … lass mich los!«
    Das Pferd hörte auf zu stampfen und zu wiehern und drehte den Kopf zu dem schwachen Stimmchen hin. Seine großen Augen wurden sanft und schienen den Männern freundlich zuzuzwinkern. Einen Moment war alles still, und auch der Schweif und die Stechfliegen bewegten sich nicht. Ide und der Bauer blickten das Pferd nur an. Es wirkte so ruhig, dass es Ide an einen Heiligen erinnerte, obwohl er nicht an Heilige glaubte. Plötzlich nahm es den Kampf gegen die saugende Erde wieder auf, zog, zerrte, stampfte, wand sich, schnaubte, wieherte. Schlamm spritzte auf, aber es sank immer weiter ein. Erst verschwanden die Mittelfüße, dann die Vorderknie und Sprunggelenke, bis es wie ein zu lang geratenes Zwergpferd aussah.
    Ide ließ den Bauern los. Er rechnete damit, angeherrscht zu werden, aber sein Brotherr wirkte nur aufgeregt. So hatte er ihn noch nie gesehen. Die sonst so leblosen Augen funkelten. »Warrens, leg Äste um sie herum!«, rief er und rannte in Richtung ihrer Hütten zurück.
    Ide raffte hastig die schon abgeschnittenen Weidenäste zusammen und warf sie zum Pferd hin. Er wollte von seinem Todeskampf nichts sehen. Mindestens eine halbe Stunde verging, ehe der Bauer zurückkam. In dieser Zeit kämpfte Ide gegen die Weidensträucher wie gegen Dämonen. Mit aller Kraft warf er sich auf sie, hackte und fluchte. »Ist es denn noch

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