Gleitflug
nicht genug?«, zischte er. »Habt ihr denn noch nicht genug …« Mit der Schulter drückte er einen Weidenstamm um. »Dummer Gaul … verfluchte unnütze Bäume.«
Seine Wut war größer als der Schmerz, wenn die Äste ihm Arme und Gesicht zerkratzten. Er war triefnass und erschöpft, aber sein Körper wütete weiter. Ide brüllte und weinte und riss die Erde auf, bis der Bauer wieder auftauchte, auch er völlig verschwitzt. Mutlos blieb er stehen und warf die Bretter, die er geholt hatte, neben sich auf die Erde. Sein Pferd hatte kaum noch Beine.
»Wir schaffen es!«, schluchzte Ide und wischte sich rote Tränen aus dem Gesicht. Er warf eine neue Ladung Äste vor das Pferd. »Ich hol es raus! Ich bin stark! Stärker als der Schlamm!«
Schweigend schaute der Bauer Ide zu, der aus den Ästen und Brettern blitzschnell eine Art Steg baute. Er kroch darauf zu dem Pferd und band ihm ein Seil um den Hals. »Wir schaffen es«, sagte er und streichelte es zwischen den Augen. Es war ruhig. Nur manchmal schüttelte es den Kopf, um die Bremsen zu verjagen. »Ssssssst«, keuchte Ide. »Wir schaffen es.«
Auf dem Markt kaufte die Dame mit der Edelkorallenkette und den glänzenden Fingernägeln drei Kistchen Kartoffeln. »Der Diener kann sie erst heute Abend abholen, das Mädchen ist krank. Ist das in Ordnung?«
Ihr Lächeln war aufrichtig, und Sophia hörte sich antworten: »Ich kann Ihnen die Kartoffeln bringen. Jedenfalls, wenn Sie nicht weit von hier wohnen.«
Wieder dieses Lächeln. »Das ist freundlich von Ihnen. Ich wohne ganz in der Nähe, gleich hinter dem Markt.«
Sophia besorgte sich eine Schubkarre und bat ihren Nachbarn, so lange auf den Stand aufzupassen.
Die Dame ging vor, Sophia bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. Müdigkeit und Hitze schlugen gnadenlos zu. Sie blies eine Strähne vor ihren Augen weg und betrachtete das Kleid der Frau. Der Stoff glänzte in der Sonne. Sophia stellte sich vor, sie selbst läge unter diesem weichen Stoff und dürfte monatelang in einem kühlen, abgedunkelten Zimmer schlafen.
Es war wirklich nicht weit, höchstens fünf Minuten, und trotzdem hatte Sophia das Gefühl, dass ihre Beine lahm wurden; ihr Blickfeld verengte sich, sie sah die Welt in kleinen Ausschnitten. Schubkarre, Gartentor, Weg, Hintertür, Küchenboden. Rote und schwarze Sterne. Hinterher wusste sie nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. In einem großen Sessel im Salon kam sie wieder zu sich. Die Frau hockte neben ihr, sie blickte sie besorgt an. »Geht es wieder?«
Sophia starrte auf ihr weißes Gesicht. Ihre Haut war so vollkommen, sie hätte sie gern berührt. Wie Porzellan.
»Sind Sie krank?«
Sophia schüttelte den Kopf. Sie überlegte, wie sie wohl in diesen Sessel gekommen war. Die Frau wirkte nicht besonders kräftig.
»Ich hole ein Glas Wasser.«
Das Rascheln des Kleides entfernte sich. Sophia betrachtete die schweren Möbel ringsum. In einer Art Nische sah sie eine bescheidene Bibliothek. Vorsichtig stand sie auf und ging zu dem offenen Bücherschrank. Mit dem Zeigefinger strich sie über die Buchrücken. Die Bücher waren alphabetisch geordnet. Sie drückte die Nase an einen der Bände und schloss die Augen. Das war ihr Ritual. Zuerst riechen, dann lesen. Ihr Vater hatte über diese seltsame Gewohnheit immer sehr gelacht. Sieversuchte sein Bild heraufzubeschwören, aber seine Gesichtszüge waren wie ausgewischt. Er war ein Schemen geworden, genau wie ihre Mutter. Wie hatten ihre Eltern gerochen, wie ihre Stimmen geklungen? Die Erinnerung ließ sie im Stich. Schuldgefühle hatte sie schon lange nicht mehr. Bestimmt hatte ihr Vater sie gesucht, aber sie war nirgendwo registriert. Es hatte nicht wenige Augenblicke gegeben, in denen sie gern zurückgekehrt wäre, aber es war nicht dazu gekommen. Aus irgendeinem Grund war es nie der richtige Moment gewesen, und außerdem glaubte sie, ihren Eltern nicht mehr gegenübertreten zu können. Sie schob die Zunge in die Lücken in ihrem Gebiss.
»Ach, hier sind Sie«, sagte die Frau. Sie reichte ihr das Glas.
»So ein wunderbarer Bücherschrank«, flüsterte Sophia.
»Nussbaum. Mein Mann hat ihn extra aus England kommen lassen.«
»Ich meinte die Bücher, der Schrank ist gewiss auch schön, aber die Bücher … wunderbar. Almagro von Toussaint ist eins meiner Lieblingsbücher.«
»Können Sie denn lesen?«, fragte die Frau verwundert und betrachtete sie mit einem anderen Blick als bisher.
»Aber ja. Nur komme ich nicht mehr dazu.
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