Glencoe - Historischer Roman
graute. Eine Weile lang dämpfte der Sturm seine Schreie und ließ die gebeutelte Erde Atem schöpfen. Über die zerwühlte Fläche des Sees, in gut einer halben Meile Entfernung, sah der MacIain ein Licht und wusste, dass es zu seinem Haus gehörte. »Nial«, sagte er zu einem der Gillimores, der nicht mehr gerade stehen konnte. »Geh heim nach Glencoe, und bring unsern Frauen Nachricht.«
»Was soll ich ihnen sagen, Herr?«
»Dass alles seinen Gang geht«, erwiderte Sandy Og. »Dass Glencoe nichts zu fürchten hat und wir nach Neujahr zurück sind.« Er überließ dem Mann sein Pony. »Mit nur einem Gaul im Boot ist der Ruderer schneller. Und ich bin ja nicht der MacIain; ich darf mir die Hosen nass machen.«
In Appin klopften sie den Bootsmann aus dem Schlaf. Das bisschen Wärme, das ihnen aus dem Verschlag entgegenschlug, weckte eine Sehnsucht, die gefährlich war. Um ihr nicht nachzugeben, versetzten sie sich Knüffe und Klapse, versuchten, Witze zu reißen, schütteten sich die letzten Tropfen des Viermalgebrannten in den Hals.
Am anderen Ufer lag Schnee bis an den Bauch des Ponys, und darunter war der Schlamm gefroren, sodass sie mehr glitten und strauchelten als gingen. Kamen sie noch voran? Vor Müdigkeit spürte der MacIain die Kälte nicht mehr. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie sich auf dem richtigen Weg befanden.
Weiter, nur weiter, nicht innehalten und nicht denken. Ohne Absicht sah er den weiß gleißenden Hang hinauf und entdeckte den Turm der Festung Barcaldine, der wie ein Finger in den Himmel ragte. Sie waren in der Tat auf dem richtigen Weg und bereits weiter, als er sich erhofft hatte. Mit gesenktem Kopf gönnte er sich einen tiefen Atemzug. Wir kommen durch. Bis zum Abend sind wir in Inveraray und in ein paar Tagen daheim in Glencoe. An Beltane essen wir Bannocks, und zu Samhain brennt das Knochenfeuer. Colins Rinder, die geben Milch in der Heide.
Ein Schuss zerfetzte das Brausen des Windes, gefolgt vom Getrappel hart vernagelter Sohlen. Um nach Deckung zu suchen, war es zu spät. Leuchtend vor dem Weiß des Schnees, den sie niedertrampelten, stürmten die Rotröcke den Hang hinunter. Was für ein aberwitziger Plan veranlasste den Sassenach, in solchen Stürmen Truppen zu bewegen? Die Grenadiere hatten sie im Nu umzingelt, Musketen im Anschlag, eine Mündung so knapp vor Sandy Ogs Schläfe, dass dem MacIain übel wurde. Mit klammen Fingern nestelte er an seinem Mantel, als ihm ein Musketenlauf die Hand beiseiteschlug. Der Schmerz war atemberaubend. »Finger weg von der Waffe, Kerl.«
»Ich habe einen Passierschein von Gouverneur Hill aus der Schwarzen Garnison«, rang er sich ab.
»Aus Fort William«, sagte Sandy Og.
»Das könnt ihr eurem Großvater erzählen oder den Würmern, die den fressen. Uns kümmert’s einen Dreck.« Zwei packten ihn und zerrten ihn aus dem Sattel. »Los, mitkommen! Captain Drummond wird’s freuen.« In einer Reihe, mit den Mündungen der Musketen im Rücken, scheuchten die Grenadiere sie auf die Festung Barcaldine.
Das Jahr war zu Ende und ein neuer Schneesturm tobte, als der MacIain, sein Sohn Sandy Og und sein Gillimore Sim ihre Reise fortsetzen konnten. Natürlich hatte jener Captain Drummond, wer immer er sein mochte, Hills Brief lesen und seine Gefangenen auf freien Fuß setzen müssen, doch nicht ehe ein Tag und eine Nacht verstrichen waren. Diesen Tag und die Nacht hatten Sandy Og und Sim in einem Verlies unter der Festung verbracht, in dem sie nicht aufrecht stehen konnten.
Der MacIain war in einen Wandschrank gesperrt worden, in den er eben passte, wenn er die Beine an den Leib zog. Männer, die seine Enkel hätten sein können, hatten ihn gestoßen, und keiner hatte ihm ein Stück Brot, eine Decke oder einen Becher Wasser angeboten. Dass ein Mann einen anderen, selbst einenGegner, so behandelte, war dem MacIain zu fremd, um Zorn zu empfinden. Vielleicht war er auch zu erschöpft. An die Angst, die er in diesen Stunden ausgestanden hatte, wollte er, solange er noch lebte, nie mehr denken.
»Was tun wir, Männer?« Wo war sein Trotz, seine Zuversicht?
»Weitergehen«, sagte Sandy Og. »Uns wieder nass machen, jetzt, wo wir nahezu getrocknet sind.«
»Hat das denn noch Sinn?«
Sandy Og hatte sich offenbar gänzlich abgewöhnt, mit den Schultern zu zucken und »Weiß nicht« zu sagen. »Muss ja«, sagte er stattdessen. Und hielt die Schultern straff.
Es war der zweite Tag des neuen Jahres, als die drei Reisenden, nunmehr in strömendem
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