Glencoe - Historischer Roman
dass ein Mann in dir steckt?«
Der Vater pumpte von Neuem die Brust auf. »Auf dem Weg nach Dalcomera will ich dich an meiner Seite, hörst du? Dich und deinen Bruder, und kein Wort der Zwietracht zwischen euch, sonst …«
Sonst was? Sandy Og zuckte noch einmal mit den Schultern und spannte den Nacken, um für weitere Schläge gewappnet zu sein.
»Sandy Og«, sagte der Vater. »Kannst du mir nicht helfen? Dein Bruder ist …« Er brach ab. Sandy Og jedoch wusste nur allzu gut, was er hatte sagen wollen: Dein Bruder ist der Erbe, der künftige Chief. Dein Bruder ist Vater dreier kerngesunder Söhne – er darf nicht gedemütigt werden. Sei du derjenige, der nachgibt und sich fügt.
»Dies hier ist anders. Ewen Cameron sagt, er hatte vor keiner Schlacht so viel Angst«, sagte der MacIain stattdessen.
Ewen Cameron hatte Angst? Darüber hätte Sandy Og gern mit seinem Vater gesprochen. Hätte gefragt: Lohnt es sich? Dürfen wir mit unseren Pfeifern und ein bisschen Mordlust im Herzen nach Dalcomera reiten, als ginge es um ein Gerangel zwischen Campbells und MacDonalds? Oder hätten wir abwarten müssen, weil es längst um etwas geht, das wir nicht mehr verstehen? Sind wir noch Spieler, Vater, oder Spielsteine? Aber Sandy Og war nur der Zweitgeborene, mit dem man über derlei nicht redete. Er nickte und schwang sich aufs Pferd, schloss die Schenkel und trieb den Schecken neben den Braunen von John. »Es tut mir leid«, sagte er.
Der Bruder beugte sich zu ihm hinüber und boxte ihn gegen den Arm. »Schon gut, kleiner Bruder. Ich kenn dich ja, ich nehm das Kraut, das du schwatzt, nicht ernst. Wir haben zu lange herumgesessen. Ein Mann braucht Kämpfe, sonst verrostet er wie seine Klingen«, sagte er dann. »Gut, dass es mit dem faulen Lenz jetzt endlich vorbei ist, dass sich Jamie Stuart auf uns besinnt.«
Johns Blick blitzte vor Lebenslust. Ich liebe dich, dachte Sandy Og und betrachtete seinen Bruder von der Seite. John steckte in der ehrlichsten Haut, die auf der Welt herumgetragen wurde; er war so offen wie das Bierfass eines Hochländers. So schützenswert.
Da John lachte, beschloss Sandy Og, auch zu lachen. Lachen wir, wenn wir aus Glencoe ziehen, singen wir Glencoes Lied:
Colins Rinder,
Die geben Milch in der Heide.
Der MacIain lenkte seinen Grauschimmel zwischen John und den Pfeifer und warf den herrlichen Kopf zurück: »Aufstellung, Männer! Wir nehmen das feurige Kreuz für unser Tal.«
Augenblicklich formierte sich der Wirrwarr, bildeten Männer und Pferde eine Reihe. Von Mann zu Mann wurde das feurige Kreuz gereicht, zwei zusammengenagelte Balken, an dem ein blutiger Leinenfetzen hing – wer die Hand darauf legte, verpflichtete sich, bis zum Letzten für den Clan zu kämpfen. Die Frauen wichen zurück, und Ranald vom Schild hob an, das Lied des Auszugs zu singen.
Sieh nicht nach hierhin und dorthin, gebot sich Sandy Og, und dreh dich vor allem nicht um. Wer aus seinem Tal ritt, hatte nach vorn zu sehen, der Beute entgegen, die er erringen und nach Hause tragen wollte. Dreh dich vor allem nicht um.
»Fraoch Eilean«, rief der Barde, und hundert Hände fuhren in die Falten der Plaids, zogen Heidezweige heraus und steckten sie an die blauen Bonnets. Sandy Og brach den seinen, ehe John es bemerkte, hastig in zwei Hälften. Dann steckte er eine an und warf die andere über seine Schulter zurück.
Hampton Court bei London, Mai 1689
»Ich muss Euch sprechen.«
Marys Gemahl war ein Meister im Schweigen. Er schwieg alles aus, egal ob Zorn, Streit oder Sorge, und dass ausgerechnet sein gefügiges Weibchen ihn zum Sprechen zwang, war er nicht gewohnt – noch weniger, dass sie ihn während einer Unterredung in seinem Gemach störte. Die vier Herren, mit denen er sich im Gespräch befand, blickten verwundert auf. William hob eine dünne Braue und musste unvermittelt husten. Seit sie auf der Insel wohnten, hatte er immer häufiger diese Anfälle. Es war also zu seinem Besten, dass sie mit ihm sprach.
Drei Wochen zuvor waren Mary und William in der Abbey von Westminster zu König und Königin gekrönt worden. Die ganze Zeremonie schien eilig zusammengezimmert, prunklos wie die Räume, in denen das neue Monarchenpaar untergebracht war. Wie konnte jemand erwarten, dass Mary sich damit zufriedengab? Sie verlangte nicht viel, wohl aber ein behagliches Heim, schmucke Gärten und angemessene Verpflegung.
Zwei der Herren waren Mary bekannt. Der eine war ihr belangloser Schwager Georg, der andere Hans
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