Glennkill: Ein Schafskrimmi
machen. Rebecca begriff schnell. Wieder lachte sie. Sie fingerte den Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Kiste. Ein guter Geruch strömte von ihrem Nacken herauf, als sie sich auf die Knie niederließ, um eines der Päckchen aus der Kiste zu holen.
Sie biss einen Bindfaden mit den Zähnen durch. Plastik raschelte. Trockenes bröselte ihr durch die Finger.
Sie schnupperte. Die Schafe schnupperten auch. Es roch … fremd. Appetitlich. Mopple wusste sofort, dass man es fressen konnte.
»Gras!«, sagte Rebecca laut. »Jede Menge Gras!«
Die Schafe sahen sich an. Das also war das geheimnisvolle Gras, auf das die Menschen so wild waren. Jedes von ihnen hatte schon solch ein kleines Päckchen unter dem Bauch getragen, von einem Faden tief im Fell gehalten, wenn George sie für ein paar Wochen auf die andere Weide trieb. »Es geht wieder nach drüben«, hatte George dann jedes Mal zu ihnen gesagt. »Operation Polyphem.« Wenn sie damals gewusst hätten, dass in den geruchlos verschnürten Päckchen Gras war …
Jetzt kam es auf Rebecca an. Würde sie ihnen von dem Gras etwas abgeben? Es sah nicht danach aus. Rebecca bildete mit ihrem Rock einen roten Sack und schaufelte alles hinein, was sie unter dem Dolm fand. Viele, viele kleine Päckchen kamen zum Vorschein, und ein etwas größeres, eckiges Päckchen. Und Papier. Eine Mappe Papier.
Vorsichtig trug Rebecca ihren schwer gebauschten Rock zurück zum Schäferwagen. Eine Weile blieb sie verschwunden. Dann saß sie auf einmal wieder auf den Stufen, einen glimmenden Punkt vor den Lippen.
Süßer, schwerer Rauch zog über die Weide. Er machte die Schafe schläfrig. Dafür war Rebecca auf einmal umso gesprächiger.
»Vorlesen soll ich euch also, Schafe«, sagte sie. »Ich werde euch vorlesen, wie euch noch nie jemand vorgelesen hat. Ich weiß auch schon, was. Mal sehen, wie euch das gefällt …«
Sie kletterte mit unsicheren Schritten zurück in den Schäferwagen und kehrte mit einem Buch in der Hand zurück. Irgendwo in der Mitte klappte sie es auf. Die Schafe wussten, dass es so nicht ging. Das Buch musste zuerst vorne aufgeschlagen werden, und erst im Laufe des Vorlesens würde das Papier langsam von der einen Umschlagseite zur anderen wandern. Einige Schafe blökten protestierend, aber die meisten waren zu müde, um sich über diesen kleinen Regelverstoß aufzuregen. Immerhin wurde endlich wieder vorgelesen. Man konnte nicht erwarten, dass die junge Schäferin gleich beim ersten Mal alles richtig machen würde.
Rebecca begann zu lesen.
»›Catherine Earnshaw, mögest du keinen Frieden finden, solange ich lebe! Du sagtest, ich hätte dich getötet – nun, dann verfolge mich. Die Ermordeten pflegen ihre Mörder zu verfolgen. Ich glaube – ich weiß, dass Geister auf Erden gewandelt sind. Sei immer bei mir – in jeder Gestalt – treib mich zum Wahnsinn! Nur lass mich nicht in diesem Abgrund, wo ich dich nicht finden kann! Oh Gott, das ist unaussprechlich! Ich kann nicht leben ohne mein Leben! Ich kann nicht leben ohne meine Seele!‹«
Der Mond verschwand hinter einer dunklen Wolke, und das einzige Licht, das nun die Seiten erleuchtete, war der kleine glimmende Punkt zwischen Rebeccas Lippen. Fasziniert umstanden die Schafe den Schäferwagen. Im Licht der Glut sah Rebecca ein wenig so aus, wie sich die Schafe den siamesischen Seeräuber aus »Pamela und der gelbe Freibeuter« immer vorgestellt hatten, schmaläugig und schwermütig. Das Buch klappte zu.
»Das ist zu dunkel«, sagte Rebecca. »Das ist zu traurig. Für traurige Geschichten brauche ich kein Buch, Schafe.« Sie schwieg eine Weile und blies süßen Rauch über die Weide. Dann sprach sie erneut, mit ihrer Vorlesestimme, aber ohne Buch.
»Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte nicht einen Papa, sondern zwei. Einen normalen und einen heimlichen. Den Heimlichen sollte sie nicht sehen, aber natürlich sahen sie sich doch, und sie mochten sich sehr. Die Mutter des Mädchens, die schöne Königin, hatte das nicht gerne. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Niemand konnte etwas dagegen tun. Doch eines Tages haben sich das Mädchen und ihr heimlicher Papa dann zerstritten, furchtbar zerstritten, wegen einer dummen, dummen Sache, und das Mädchen tat alles, um ihn zu ärgern, sogar das, was ihr selbst wehtat. Dann haben sie lange nicht mehr miteinander gesprochen, kein einziges Wort. Endlich erhielt das Mädchen einen Brief. Darin stand, dass der Papa eine Reise nach Europa plante. Aber
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