Glennkill: Ein Schafskrimmi
bilden Sie sich eigentlich ein? Sie brechen hier einfach ein und … Sie glauben wohl, ich mache alles, was Sie wollen, nur weil Sie diese Pistole haben!«
»Nein«, sagte der Mann überrascht. »Sie haben doch … Ich hatte daran überhaupt nicht gedacht!«
»Ah ja. Tatsächlich?«
»Wenn Sie denken, ich hätte das nötig!« Auch der Mann klang jetzt wütend.
Schweigen, eine ganze Weile.
Dann lachten plötzlich beide zugleich.
Dann wieder Schweigen.
»Okay«, lachte Rebecca. »Dann müssen wir uns eben anders beschäftigen. Setzen Sie sich doch.«
»Hm«, sagte der Mann.
»Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen. Wie Scheherazade aus Tausendundeine Nacht.«
»So lange wollte ich eigentlich nicht bleiben«, sagte der Mann.
»Andererseits …«
Stille schwappte aus dem Fenster des Schäferwagens, dick und schwer wie warmer Atem.
Die Schafe sahen sich an. Vielleicht würde es dort drinnen nun doch noch interessant werden. Sollten sie zur Ermutigung ein aufmunterndes Geblök anstimmen?
Wie auf ein Kommando blökten Maude und Heide los.
»Geschichten!«, blökten sie. »Geschichten!«
Es dauerte eine Weile, bis Miss Maple wieder für Ruhe gesorgt hatte.
»Selbst wenn sie dort drinnen Geschichten erzählen«, sagte sie, »wie wollt ihr sie hören, wenn ihr so einen Krach macht?«
*
Aber dann bekamen die Schafe doch keine Geschichten zu hören. Im Schäferwagen wurde überhaupt nicht mehr gesprochen. Es überraschte die Schafe nicht wirklich. Sie kannten die Situation aus den Pamela-Romanen. Wenn der geheimnisvolle Fremde – und um einen solchen handelte es sich hier ohne Zweifel – erst einmal mit einer Frau alleine war, konnte man darauf warten, dass die Geschichte im Nichts verlief. Der Mann und die Frau hörten einfach an irgendeiner Stelle auf zu sprechen, und dann war das Kapitel aus. Man erfuhr nie, was weiter passierte. Es war den Schafen ein Rätsel. Irgendetwas musste doch geschehen. Die Menschen verschwanden ja nicht einfach. Meist tauchten sie schon im nächsten Kapitel wieder auf, gesund, munter und guter Dinge. Trotzdem gab es in den Geschichten diese seltsamen Löcher.
Die Schafe taten, was sie auch bei Georges Vorlesestunden an solchen Stellen getan hatten: Sie grasten geduldig, bis es weiterging. Nur Maple hob noch einmal den Kopf, um vorsichtshalber das Wetter im Schäferwagen auszuwittern. Stürmisch, aber klar. Regen, der duftend auf Blätter tropfte. Maple senkte beruhigt ihre Nase ins Gras.
Sehr viel später, als die Beobachtung des Schäferwagens sogar Miss Maple langweilig geworden war, öffnete sich langsam die Tür. Der Mann trat heraus und sah dem Mond eine Weile beim Scheinen zu.
»Eine schöne Nacht«, sagte er. Rebecca war neben ihm auf den Stufen des Schäferwagens aufgetaucht. Ihr Kleid, das in der Dunkelheit schwarz aussah wie das von Beth, hatte sie wieder zu einem Beutel gerafft. Ein Träger war heruntergeglitten und legte eine mondlichtblaue Schulter frei.
Rebecca summte vor sich hin. Dann sahen sich die beiden an, und Rebecca hörte auf zu summen.
»Einen Joint hab ich geraucht«, sagte sie entschuldigend.
Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung.
Rebecca kicherte. »Und ein ganzes Päckchen ist weg. Das hat ein Schaf gefressen. Das dicke da.«
»Ich glaube, das ist ein Widder«, sagte der Mann. »Kostspieliges Tier. Aber damit werden wir leben können.«
Der Mann fing an, die Päckchen aus Rebeccas Rock zu fischen und in seinen Manteltaschen verschwinden zu lassen. Er zählte mit.
»… einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Abzüglich eines Pakets Schaffutter ist die Lieferung damit komplett. Die Mappe. Alles drin. – Was ist das?«
Der Mann hielt das eckige Paket in der Hand.
»Ich würde sagen, eine Videokassette«, sagte Rebecca. »Sie kennen sie nicht?«
»Nie davon gehört«, sagte der Mann, als er das eckige Paket in seine Manteltasche schob.
Er nahm Rebeccas Hand vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, hob sie empor, langsam, wie etwas sehr Schweres und Zerbrechliches, und küsste lautlos die Fingerspitzen. Dann drehte er sich um und ging grußlos wieder zurück zu seinem Auto. Der summende Motor entfernte sich.
*
Erst als man das Auto nicht mehr hören konnte, entspannten sich die Schafe. Der leise Mann hatte sie beunruhigt, warum, wussten sie selbst nicht so genau. Aber jetzt war wieder alles in Ordnung. So in Ordnung wie schon lange nicht mehr. Georges Tochter saß im Schäferwagen, Gabriel und seine gefräßigen
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