Glennkill: Ein Schafskrimmi
wenig erkennen konnte.
Der Mittag war friedlich wie schon lange nicht mehr. Sicher trug die milde, von Schleierwolken halbverhangene Sonne dazu bei, die verschwenderische Aussicht auf ein makellos blaues Meer und das Summen der Insekten. Aber das Besondere war die Erleichterung darüber, einen so kompetenten Schäfer auf den Stufen des Schäferwagens sitzen zu haben. Und die Vorfreude auf Gabriels Geschichten in den Dämmerungsstunden.
Als der Mann auf dem Fahrrad auf sie zuraste, war es mit dem Frieden jedoch schlagartig vorbei. Die Schafe misstrauten Fahrrädern. Zur Sicherheit zogen sie sich auf den Hügel zurück. Aber der Mann auf dem Fahrrad hatte es nicht auf sie abgesehen. Er steuerte direkt auf Gabriel zu.
In sicherer Entfernung beruhigten die Schafe sich etwas und drehten ihre Ohren dem Schäferwagen zu. Der Mann stieg ab und stellte sich direkt vor Gabriel. Jetzt erkannten sie ihn. Es war derselbe, der mit Lilly, Ham und Gabriel gekommen war, um als Erster Georges Leiche zu besichtigen, derselbe große Dünne, der in der vergangenen Nacht seine Nase gegen die Fenster des Schäferwagens gepresst hatte: Josh. Er roch nach Seifenwasser und ungewaschenen Füßen. Mopple versteckte sich hinter dem Dolm und äugte ängstlich zwischen den Steinen hervor.
Mutigere Schafe wie Othello, Cloud und Zora trabten neugierig näher.
»Josh«, sagte Gabriel, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Seine blauen Augen fixierten den Dünnen. Die Schafe wussten, wie der sich jetzt fühlen musste. Geschmeichelt im Gesicht und etwas weich in den Knien.
Der Dünne kramte nervös in seiner Jackentasche herum. Er fand einen Schlüssel und hielt ihn Gabriel respektvoll hin.
»Von Kate. Hat ihn doch noch gefunden. In einer Schachtel Haferkekse. Das muss man sich mal vorstellen: Haferkekse!« Der Dünne lachte. Die Schafe wussten jetzt, warum er so nervös war. Wahrscheinlich hatte er die Haferkekse ausgefressen.
»Kate meint, es muss einfach im Schäferwagen sein«, sagte der Dünne. »Im Haus ist es sicher nicht.«
»Gut«, sagte Gabriel. Er nahm den Schlüssel und schnippte ihn achtlos neben sich auf die oberste Stufe.
»Gabriel?«, fragte der Dünne.
Schweigen. Eine Elster flog neugierig über das Dach des Schäferwagens.
»Was ist, wenn wir es nicht finden?«
»Solange es auch sonst niemand findet …«, sagte Gabriel. Seine blauen Augen suchten das blaue Meer. Rauchwolken zogen aus seinem Mund.
»Weißt du, was sie sagen, Gabriel?«
Gabriel sah so aus, als wüsste er es nicht und würde es auch nicht wissen wollen. Trotzdem sprach der Dünne weiter. »Sie sagen, es ist überhaupt nicht im Schäferwagen. Sie sagen, es steht alles im Testament.«
»Wenn das stimmt, dann werden wir es ja am Sonntag wissen«, sagte Gabriel.
Der Dünne gab einen kleinen, nervösen Laut von sich. Dann zog er den Kopf zwischen die Schultern und ging wieder zu dem Fahrrad hinüber. Als er etwa drei Schritte weit gekommen war, rief Gabriel ihn zurück.
»Ach, Josh?«
»Gabriel?«
»Es ist schon genug Unsinn hier passiert, ja? Du solltest dafür sorgen, dass damit endlich Schluss ist.«
»Unsinn? Wie meinst du das, Gabriel?« Josh klang erschrocken.
»Zum Beispiel nächtliche Ausflüge zu Georges Schäferwagen. Was soll das? Das macht nur die Schafe scheu.«
Cloud war gerührt. Sogar jetzt dachte Gabriel an sie.
Josh schien nicht über die vergangene Nacht sprechen zu wollen. »Was sind das überhaupt für Schafe?«, fragte er. Der Wirt blickte kritisch zu den Gabrielschafen hinüber und sprach sehr schnell. »Komisch sehen sie ja schon aus. Solche hab ich noch nie gesehen.«
»Eine neue Fleischrasse«, sagte Gabriel aus dem Mundwinkel. Er sah Josh mit blauen Augen an. Der Blick brachte Josh zum Schweigen. Sie schwiegen eine ganze Weile.
Josh seufzte. »Du weißt wirklich alles, was?«
Gabriel sagte etwas in seiner gälischen Sprache. Die Schafe fragten sich, ob er für diese Sprache eine zweite Zunge im Mund hatte.
»Es ging nicht anders«, jammerte Josh. »Tom und Harry wären auf alle Fälle gegangen, die Idioten. Das Gras finden, den Skandal vermeiden, dem Tourismus nicht schaden, immer die alte Leier. Als ob es darum ginge … Die haben ja keine Ahnung. Da dachte ich, ich bin lieber dabei als nicht, verstehst du? Ich hab ihnen einen falschen Schlüssel gegeben, damit sie kein Werkzeug mitbringen und garantiert nicht reinkommen.«
Gabriel nickte verständnisvoll. Josh war sichtlich erleichtert. Auf einmal schien ihm das
Weitere Kostenlose Bücher