Glennkill: Ein Schafskrimmi
sind.«
Sie hätten gerne Sir Ritchfield als Leitwidder behalten. Aber ein Leitwidder, bei dem man nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, ob er auch wirklich der Leitwidder war, kam ihnen unpraktisch vor. Außerdem hatte Ritchfield sich verändert. Er war fröhlicher geworden, verspielter, beinahe jungwidderhaft verwegen. An der Leitwidderei schien er nicht mehr besonders interessiert zu sein. Die meiste Zeit verbrachte er dicht neben Melmoth. Noch nie hatten sie ihn so glücklich gesehen. Ritchfield hatte eine neue Regel aufgestellt. »Kein Schaf darf die Herde verlassen«, sagte er jedem, der es hören wollte, »außer es kommt zurück.«
*
In aller Frühe, früher als George je gekommen war, tauchte Gabriel wieder auf der Weide auf. Ohne seinen Hirtenstab. Ohne Hunde. Sogar ohne Hut. Aber mit Pfeife im Mundwinkel. Und mit einer Leiter. Die Schafe waren stolz, dass sie schon bei der Arbeit waren. Gabriel sollte gleich sehen, dass es unter ihnen keine Faulpelze gab.
Doch Gabriel schien nicht besonders erfreut. Mochte er Melmoth nicht? Aber Gabriel schien den neuen Widder in der Herde gar nicht zu bemerken. Er warf einen kurzen Blick auf seine eigenen Schafe, die ihren umzäunten Weideflecken schon halb kahl gefressen hatten. Dann marschierte er mit der Leiter zum Krähenbaum.
Auf ihrer Weide selbst gab es keine Bäume. Dafür war die Wiese nach zwei Seiten hin von Hecken begrenzt. Die Hecken waren kein ernst zu nehmendes Hindernis, wenn sich ein Schaf erst einmal entschlossen hatte, die Weide zu verlassen. Aber sie versperrten den Blick auf das saftige Grün der Umgebung und hinderten die Schafe so daran, die Weide verlassen zu wollen.
»Psychologische Hindernisse« hatte George das genannt.
In diesen Hecken hatten sich zwischen dem Ginster drei Bäume gehalten: Der Schattenbaum, unter dem es im Sommer wunderbar kühl war, ein kleiner Apfelbaum, der – zum großen Ärger der Schafe – seine Äpfel immer schon abwarf, wenn sie nur so groß wie ein Schafsauge waren und sauer wie Willow an ihren schlechtesten Tagen. Außerdem gab es den Krähenbaum. Dort wohnten Vögel und schrien vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung. Mittags waren sie still.
Auf den Krähenbaum steuerte Gabriel jetzt mit seiner Leiter zu. Er stellte die Leiter neben den Stamm. Kletterte auf die Leiter. Kletterte auf den untersten Ast. Die Vögel bemerkten, dass es ihm ernst war, und flogen auf, rund und unbeholfen wie Wildtauben, glänzend und spöttisch wie Krähen oder eben schwarzweiß und verstohlen – wie Elstern.
Gabriel kletterte eine ganze Weile auf dem Baum herum. Die Schafe beobachteten ihn.
»Er mag Elstern«, sagte Mopple. Es war das erste Mal, dass er etwas über Gabriel sagte. Mopple the Whale schämte sich ein bisschen dafür, dass ihm die ganze Gabriel-Sache nicht besonders wichtig war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten Gabriel und seine seltsamen Schafe nie hier auftauchen müssen. Jetzt fraßen die unheimlichen Fremden mit beängstigender Geschwindigkeit einen Teil der Weide kahl, und unter ihnen gab es einen Widder, zu dem Zora immer wieder mit unruhigen Augen hinüberschielte. Gabriel selbst schien auch nicht besonders nützlich zu sein. Was hatte er denn bisher für sie getan? Keine Rüben, keinen Klee, kein trockenes Brot, noch nicht einmal Heu. Er hatte den Wassertrog nicht sauber gemacht, obwohl es Mopples Meinung nach dringend nötig gewesen wäre. Gestern war Gabriel die ganze Zeit nutzlos über die Weide gehüpft. Und heute: Bäume! Die Vögel veranstalteten natürlich ein Gezeter, und das zu Recht. Wenn es das war, was Gabriel unter seinen Pflichten verstand, standen ihnen unruhige Zeiten bevor.
Gabriels drahtige kleine Schäferfigur turnte von Ast zu Ast, immer höher hinauf. Wie eine Katze. Wie eine Katze spähte Gabriel in die Vogelnester.
Es wurde den Schafen bald langweilig. Wenn Miss Maple nicht darauf bestanden hätte, Gabriel genau zu beobachten, wären sie bald wieder auf andere Gedanken gekommen. Doch so starrten sie durch die Zweige in die Höhe, bis ihnen von der ungewohnten Kopfhaltung schwindelig wurde. Sogar Melmoth spähte mit einem seltsamen Vogelblick zu Gabriel hinauf.
Aber dann war es doch Sir Ritchfield, der das Entscheidende sah. In einem der Nester hatte Gabriel anscheinend gefunden, was er suchte. Außer Ritchfield sahen noch Zora, Maple und Othello, dass Gabriel einen Schlüssel in der Hand hielt. Aber nur Ritchfield konnte erkennen, dass es nicht der Schlüssel
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