Glennkill: Ein Schafskrimmi
war, den Josh gestern aus der Haferkeksdose entführt hatte.
»Klein und rund«, sagte Sir Ritchfield. »Der Schlüssel aus dem Nest ist klein und rund. Und der Schlüssel gestern war lang und eckig.« Die Schafe staunten. Besonders über Ritchfield. Vor Stolz über seine Beobachtung bemerkte er nicht einmal, dass er sich an den Schlüssel von gestern überhaupt noch erinnern konnte. Melmoths Anwesenheit tat ihm ganz offensichtlich gut.
Gabriels Gedächtnis schien schlechter zu sein als das von Sir Ritchfield. Vielleicht hatte er den Schlüssel gestern auch gar nicht richtig angesehen. Jedenfalls kletterte er gut gelaunt wieder vom Krähenbaum herunter. Gut gelaunt trabte er zurück zum Schäferwagen, und gut gelaunt steckte er den Schlüssel in das Schloss. Dann war es mit der guten Laune schlagartig vorbei. Gabriel stieß einen kleinen ärgerlichen Pfiff durch die Zähne. Als die Gabriel-Schafe diesen Pfiff hörten, brach eine stumme, grundlose Panik unter ihnen aus, die noch anhielt, als Gabriel schon längst über den Feldweg zurück ins Dorf gestapft war. Georges Schafe sahen ihnen beunruhigt zu, bis ein anderes Geräusch ihre Aufmerksamkeit ablenkte.
Melmoth stand neben dem Dolm und kicherte.
*
Die Schafe merkten bald, dass Melmoth nicht einfach nur ein Schaf mehr in der Herde war. Sie konnten sich nicht genau erklären, wieso. Das Erste, was ihnen auffiel, war Melmoths zerstreuende Wirkung. Wenn Melmoth unter ihnen graste, war es ihnen kaum möglich, die normale Herdenformation zu halten. Unwillkürlich strebten sie auseinander, als wäre ein Wolf in ihre Herde eingebrochen. Nur im Weidetempo natürlich, also sehr langsam, fast ohne es zu bemerken. Es begann, ihnen unheimlich zu werden.
Eine andere Sache waren die Vögel. Keine rundlichen Singvögel, sondern raustimmige Aasfresser wie Krähen und Elstern. Melmoth ließ sie auf sich herumturnen und trug sie beim Grasen spazieren. Natürlich fürchteten die Schafe sich nicht vor Krähen (außer Mopple vielleicht), aber sie rochen ihnen ein bisschen zu sehr nach Tod. Als sie Melmoth fragten, schnaubte er spöttisch.
»Eine Herde wie ihr, eine kleine, schwarzbeschwingte Herde. Sie wachen und weiden und kraulen das Fell. Das ist nicht ihre Schuld, dass sie den Tod weiden. Sie lassen die Erinnerung in Frieden. Sie sind klüger als ihre eigene Stimme. Sie verstehen den Wind.«
»Verrückt!«, dachten manche, aber das laut zu sagen, traute sich eigentlich niemand. Melmoths Sprache war zwar seltsam wie das Meckern einer Ziege, aber einen verwirrten Eindruck machte er deswegen noch lange nicht. Es war so, als würde Melmoths Rede das, was er sagen wollte, in sonderbaren Linien umkreisen. Umständlich kam es ihnen vor, aber nicht verrückt. Nur Cordelia bestand darauf, dass Melmoths Sprache genauer war als die aller anderen Schafe.
»Er sagt die Dinge nicht einfach, wie er sie denkt. Er sagt die Dinge, wie sie sind « , pflegte sie zu sagen, wenn sich irgendwo wieder einmal ein kleines Grüppchen melmoth-skeptischer Schafe zusammengefunden hatte. Diese Grüppchen wurden häufiger – und geheimer. Sie merkten schnell, dass Melmoth geradezu unheimlich viel von dem mitbekam, was auf der Weide passierte.
»Die Vögel erzählen es ihm«, blökte Heide, und die Schafe begannen, ein wachsames Auge auf den Himmel zu haben. Sie beobachteten Melmoth genauer als je zuvor.
Melmoth graste über die Wiese wie ein einsamer Wolf. Auch sein Gesichtsausdruck hatte etwas Wölfisches. Es schien absurd, und doch kam es ihnen manchmal so vor, als wäre Melmoth gar nicht wirklich ein Schaf. Die Kühneren unter ihnen dachten kurz an die Geschichte vom Wolf im Schafspelz und schauderten.
Und dann gab es da noch ein einzelnes Lamm, ein Lamm, das auf seinen wackeligen Beinen stand und Melmoth mit großen, scheuen Augen beobachtete. Kurze Zeit später begann ein Gerücht sich über die ganze Herde auszubreiten, das Gerücht, dass Melmoth doch ein Geist war. Sie wussten aus dem Feenmärchen, dass die Geister der Toten manchmal zurückkehren, um sich zu rächen. »Koboldkönig« und »Wolfsgeist« wisperte es durch die Herde.
*
Othello ärgerte sich. Tagelang hatte er dem Alten nachgespürt. Genau genommen jahrelang. Seit der regnerischen Nacht beim Zirkus, als Melmoth wie der Wind durch die Zeltgassen galoppierte, Othello durch Gitterstäbe dabei zusah und der grausame Clown im Schlamm lag und nach Licht brüllte, hatte Othello gewusst, dass er Melmoth wiederfinden musste. Nun
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