Glennkill: Ein Schafskrimmi
Deshalb stand er im Schatten des Dolms und rührte sich nicht. Sie überlegten weiter.
»Immerhin hat Ritchfield gesagt, dass er seine Erinnerungen sucht«, sagte Lane optimistisch.
»Wenn es ein Erinnerungsloch ist, müsste man es doch mit Erinnerungen stopfen können«, sagte Cordelia plötzlich. »Ein Erdloch stopft man doch auch mit Erde.«
»Aber ein Rattenloch nicht mit Ratten«, sagte Cloud.
»Man könnte«, beharrte Cordelia. »Mit sehr dicken Ratten.«
Ein paar Minuten später hatten sie einen Plan. Sie würden Sir Ritchfield eine Erinnerung machen, so groß und dick, dass sie das Loch einfach stopfen musste. Eine große Erinnerung mit möglichst vielen Schafen. Sie lockten Zora von ihrem Felsen und überredeten Mopple, sich wieder in Ritchfields Nähe zu wagen. Mopples Fülle konnte der Größe der Erinnerung nur gut tun. Allein Othello weigerte sich beharrlich, mitzuhelfen.
»Es muss etwas ganz Besonderes sein«, blökte Heide aufgeregt. »Etwas, was noch nie eine Herde getan hat.«
Kurz darauf lagen alle Schafe der Herde vor George’s Place auf dem Rücken, streckten alle vier Beine in die Luft und blökten aus voller Kehle. Ritchfield hatte aufgehört zu grasen und sah ihnen aufmerksam zu. Wenn sie sich nicht so angestrengt hätten, wäre ihnen aufgefallen, wie amüsiert er aussah.
»Was ist denn das für ein Unsinn«, schnaubte auf einmal Ritchfields bekannte Stimme. »Seid ihr verrückt geworden?«
Die Schafe warfen sich triumphierende Blicke zu, so gut es in dieser Lage eben ging. Sir Ritchfield klang wieder ganz gesund. Langsam rappelte sich die Herde zurück auf die Beine, etwas durcheinander von der ungewohnten Haltung, aber stolz auf ihren Erfolg.
Ritchfield trabte von den Klippen her auf sie zu. »Ordnung!«, schnaubte er. »Haltung! Kann man euch denn überhaupt nicht alleine lassen?«
Ritchfield stand auf George’s Place und begann, wieder um die Nasenwohlblumen herumzuweiden.
Die Augen der Schafe wanderten fassungslos zwischen den beiden Ritchfields hin und her.
»Das ist Ritchfield«, flüsterte Heide mit Blick auf den nach Ordnung brüllenden Ritchfield von den Klippen, »aber das ist auch Ritchfield.«
»Nein«, sagte Miss Maple, die wie ein neugieriger Schatten neben Ritchfield aufgetaucht war, » das ist Melmoth.«
*
Melmoths Ankunft versetzte die Herde in Aufruhr, wie es sonst wohl nur die Ankunft eines echten Wolfes getan hätte. Melmoth war mehr als ein verschollener Widder: Er war eine Legende, wie Jack-der-ungeschoren-Davongekommene oder der siebenhörnige Bock, ein Geist, der aufmüpfige Lämmer das Fürchten lehren musste, wenn alle anderen Warnungen nichts mehr halfen. Ein Beispiel dafür, wie es einem Schaf ergeht, wenn es sich von der Herde entfernt, zu nah an die Klippen geht, fremdes Futter frisst oder das Warnblöken der Mutterschafe nicht beachtet.
»Genauso hat sich Melmoth vorgebeugt, und er kam nicht wieder«, hieß es, wenn ein Lamm sich vorwitzig an den Abgrund wagte.
»Genauso viel Wehkraut hat Melmoth auch gefressen, und jetzt ist er tot.«
Als Spukgespenst der Lämmererziehung war Melmoth tausend gewisperte Tode gestorben, und jetzt stand er kraftstrotzend und bei bester Gesundheit vor ihnen. Die Mutterschafe fragten sich, wie sie ihre Lämmer künftig noch im Zaum halten sollten. Und kein Lamm hatte mehr grausige Melmoth-Geschichten zu hören bekommen als das Winterlamm. Jetzt drückte es sich im Schatten der Hecken herum und starrte mit rätselhaft schimmernden Augen zu Melmoth herüber.
»Ritchfield ist doppelt!«, sangen die anderen Lämmer, alle bis auf eines, das stumm blieb und sich in Clouds weiche Wolle schmiegte, so oft es nur ging.
Allen war klar, dass Melmoth etwas Besonderes war. Den »Ungeschorenen« nannten ihn manche und wussten dabei nicht so recht, ob es eine Beleidigung oder eine Ehrenbezeichnung sein sollte. Doch nachdem Ritchfield ihm beigebracht hatte, warum kein Schaf mehr auf George’s Place grasen durfte, wurde Melmoth zunächst freundlich aufgenommen.
»Er ist wollig«, sagte Cloud anerkennend. »Ein bisschen zottig vielleicht, aber wollig.«
»Er hat eine schöne Stimme«, sagte Cordelia.
»Er riecht – interessant«, sagte Maude.
»Er lässt uns die Nasenwohlblumen übrig«, sagte Mopple optimistisch.
Natürlich tauchte bald die Frage auf, wer nun eigentlich Leitwidder war.
»Wir können nicht zwei Leitwidder haben«, sagte Lane. »Selbst«, fügte sie nachdenklich hinzu, »wenn sie beide derselbe
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