Glennkill: Ein Schafskrimmi
als du nicht mitkommen wolltest? Eine Geschichte?« Er blökte laut, damit es alle Schafe auf der Weide hören konnten. »Die Geschichte der fünften Nacht?«
Die Sonne war hoch in den Himmel geklettert, und vom Meer kam kein Wind. Die Einzigen, denen die Hitze nichts auszumachen schien, waren die Fliegen, die den Schafen unermüdlich um die Nüstern schwirrten und in die Ohren krochen. So bot sich auch für die skeptischeren Schafe ein Vorwand, sich ganz beiläufig unter den kühlen Ästen des Schattenbaums einzufinden, wo Melmoth auf einem weichen Polster alter Blätter ruhte und seine Geschichte erzählte. Sogar das Winterlamm lugte irgendwann hinter dem Stamm des Schattenbaums hervor, und da die anderen Schafe zu träge waren, es fortzujagen, blieb es.
So kam es, dass allen Schafen von Georges Herde an diesem makellosen Sommertag ein Frösteln über das Fell kroch. Melmoth erzählte, wie die Schafe noch nie erzählt bekommen hatten, nicht nur mit Worten, sondern mit Wind in der Wolle und mit zitterndem Herzen, so dass bald alle Schafe mit ihm durch die Dunkelheit jagten.
Und in Melmoths Geschichte war es bitterkalt.
13
Über Stock und über Stein, Stock und Stein, Stock und Stein, Stein und Bein, Stein und Bein, Gebein, Gebein. Melmoths Hufe hämmerten auf den winterlichen Boden. Sein Herzschlag galoppierte ihm voran. Stock und Stein. Die Metzgershunde heulten. Hinter ihnen kam der Aasfresser selbst. Melmoth und Ritchfield nannten den Metzger »Aasfresser«, weil er nach Tod roch und ihnen zu behäbig vorkam, um selbst etwas zu erlegen. Jetzt aber sah es so aus, als wäre der Metzger doch unter die Jäger gegangen, und Melmoth rannte um sein Leben. Stein und Bein, Stein und Bein.
*
»Du traust dich nicht«, hatte Ritchfield gesagt, mit der ganzen Überheblichkeit des Älteren. Dass Ritchfield nur ein paar Augenblicke älter war als Melmoth, machte die Sache nicht leichter. Zuerst hatte er sich nur geärgert. Melmoth war nicht auf die Idee gekommen, zu fragen, ob Ritchfield sich trauen würde. Darum ging es auch nicht, das wurde ihm auf einmal klar. Es ging um keines der anderen Schafe. Es ging nur um ihn selbst. Melmoth hatte aufgehört zu grasen. Er drehte den Kopf und sah dorthin, wo die Landschaft begann, sich sanft von der Weide zu entfernen, Hügel an Hügel an Hügel. »Ich trau mich doch«, hatte er gesagt, mitten hinein in Ritchfields spöttisches Gesicht.
*
Gebein, Gebein, Stock und Stein. Melmoth konnte sich nicht mehr erinnern, wann und wo er diese Worte gelernt hatte. Es waren einfach die richtigen Worte. Sie halfen ihm, nicht an den Aasfresser zu denken. Denn sogar der Metzger war im Grunde unwichtig. Er musste nur weiter, rennen, über Stock und Stein, rennen, mit fliegenden Beinen und entschlossenem Atem. Solange es weiterging, war der Metzger unwichtig. Aber Melmoths Atem war nicht länger entschlossen. Zu viel kalte Luft draußen. Zu wenig warme Luft in den Lungen. Stein und Bein. Stein und Bein, seit Ewigkeiten.
*
»Drei Tage und drei Nächte«, hatte Ritchfield gesagt, »sonst gilt es nicht.«
»Nein«, hatte Melmoth gesagt. »Nicht drei.« Ritchfield schnaubte spöttisch.
»Sonst gilt es nicht. Jedes Milchlamm kann sich eine Nacht auf dem Feld verlaufen. Oder auch zwei.«
»Fünf«, sagte Melmoth. »Fünf Tage und fünf Nächte.« Er genoss es, Ritchfields verdutztes Schafsgesicht zu sehen.
»Fünf Tage und fünf Nächte«, sang er, »fünf Sonnen und fünf Monde, fünf Amseln und fünf Nachtigallen.« Er tänzelte um Ritchfield herum und keilte übermütig aus. Einen Augenblick sah Ritchfield besorgt aus. Dann ließ er sich von Melmoths guter Laune anstecken. »Fünf Amseln und fünf Nachtigallen«, sang auch er, und im nächsten Moment tollten sie übermütig über die Weide. Keiner von beiden hatte auch nur einen Herzschlag lang daran gedacht, dass man Melmoth jagen würde.
*
Über Stock und über Stein. Vor allem über Stein. So viele Steine. Und sie machten das Laufen nicht leichter. Melmoth stolperte über Geröll, stieß sich die Beine an scharfkantigen Zacken und musste immer wieder größeren Felsbrocken ausweichen. Noch nie hatte er so viele Steine gesehen. In diesem Moment wusste er, dass er sich hoffnungslos verirrt hatte. Die Metzgershunde bellten. Es waren jetzt mehr als zuvor. Ein ganzes Rudel. Ihr Geheul hallte wie der Wind hinter ihm her. Wind hinter ihm her. Hinter ihm her. Hall! Es waren nicht mehr, aber sie klangen wie ein Rudel. Es musste
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