Glennkill: Ein Schafskrimmi
»nüsternbreite, himmelweite Kunst der Aufmerksamkeit«, wie Melmoth es nannte, aber alle Schafe lernten etwas. Maude lernte, dass sie am hellichten Tag mit offenen Augen schlafen konnte, Mopple lernte, dass es möglich war, einen Nachmittag ohne Grasen durchzuhalten, Sara lernte, wie man durch ein Zittern und Zucken verschiedener Muskeln Fliegen abschütteln konnte, ohne die Ohren zu bewegen, und Heide lernte es, still zu sein. Für den Anfang war Melmoth mit ihnen zufrieden.
Später, in der duftenden, klar gewaschenen Nachgewitterluft, begann er, ihnen kleine Aufgaben zu stellen. Sie sollten direkt an den Klippen entlangspazieren und dabei auf jeden Schritt achten. Diese Übung beaufsichtigte Melmoth von Zoras Felsen aus. Sie war sehr beeindruckt, und Mopple sah nachdenklicher aus als sonst. Später schickte Melmoth die Schafe los, um Gabriels tropfnassen Schäferhut von den Stufen des Schäferwagens zu stehlen, wo dieser ihn vergessen hatte, als er vor dem Wolkenbruch in den Heuschuppen flüchtete.
Die Schafe lernten schneller, als sie verstanden. Sie merkten, dass sie nur noch sehr wenig Zeit hatten, sich zu fürchten, wenn sie wirklich alle Dinge mit der von Melmoth verlangten Aufmerksamkeit beobachteten.
Natürlich klappte nicht immer alles. Mopple vergaß bei einem von Melmoths Scheinangriffen vor Aufmerksamkeit das Ausweichen und wurde von ihm umgerannt. Heide verschluckte sich beim Grasen, weil sie vor Aufmerksamkeit zum falschen Zeitpunkt geschluckt hatte.
Gegen Abend brachte Melmoth ihnen etwas höchst Unschafshaftes bei. Er brachte ihnen bei, sich nicht hüten zu lassen.
»Aber das geht nicht«, blökte Lane. »Es passiert einfach in den Beinen.«
»Es passiert, weil ihr es passieren lasst«, sagte Melmoth. »Sie können euch nur hüten, weil ihr euch nicht selbst hüten könnt. Vergesst die Herde. Vergesst die Hunde. Hütet euch selbst.«
Bis in die Abenddämmerung übten die Schafe, sich nicht hüten zu lassen. Melmoth hatte die Rolle des Schäferhundes übernommen und galoppierte wild blökend um sie herum, ein Wirbelwind aus Scheinattacken, Finten und Rückzügen. Ihre Aufgabe war es, einfach stehen zu bleiben.
Bald waren sie alle erschöpft, die einen vom Wegrennen wider Willen, die anderen vom heroischen Stehenbleiben.
»Sind wir bald fertig?«, fragte Maude.
»Fertig? Womit?« Melmoth blickte unschuldig zu Maude hinüber.
»Mit dem Lernen«, blökte Sara.
»Nein!«, sagte Melmoth.
»Wann sind wir denn fertig?«, stöhnte Mopple. Seine Sehnen schmerzten, und sein Rücken war steif. Hunger hatte er seltsamerweise nicht.
»Runder Widder«, sagte Melmoth, »sieh Melmoth an, der die Welt durchstreift auf der Suche nach Aufmerksamkeit, und glaube ihm, dass es noch keinen Tag in seinem Leben gegeben hat, an dem er nichts gelernt hätte – und keine Nacht.«
Mopple stöhnte. Jetzt konnten sie die gewohnte Nachtruhe wohl auch vergessen. Er machte sich auf weitere anstrengende Stunden gefasst. Aber Melmoth war noch nicht fertig.
»Andererseits«, sagte er, »andererseits kann man auch beim Grasen lernen. Beim Widerkäuen. Sogar beim Schlafen. Wenn ihr mich fragt, lernt ihr jetzt am besten ein bisschen beim Grasen weiter.«
Die Schafe wurden sich schnell einig, dass es sich beim Grasen in der Abenddämmerung hervorragend lernen ließ. Später trabten sie in den Heuschuppen, um im Schlafen weiterzulernen. Aber obwohl sie müde waren wie lange nicht mehr, fiel ihnen das Einschlafen schwer. Leichter Nieselregen ließ die Blätter der Hecken in der Dunkelheit rascheln. Im Heuschuppen selbst war es geradezu unheimlich still. Erschöpft standen sie da, dachten an fremde Widder und Wanderschafe, Steine und Schäferhüte, Fleischrassen und Drahtzäune. Alles durcheinander. Sie trauten sich nicht einmal, sich zum Schlafen hinzulegen. Ein Käuzchen schrie, und sogar das machte sie nervös. Dann knirschte etwas nahe der Tür. Die Schafe drängten sich in einer Ecke zusammen, aber es war nur Melmoth, der da als schwarzer Schatten am Eingang des Heuschuppens auftauchte.
»Ihr lernt nicht«, sagte er. »Ihr schlaft nicht. Was ist los?«
»Angst«, sagte Maude.
»Angst«, blökten die anderen Schafe.
»Angst«, sagte Melmoth. »Sie ist nicht hier drinnen. Sie ist dort draußen, nicht wahr?«
Er hatte Recht. Irgendwo dort draußen waren Gabriel, der Metzger und alle Fleischfresser dieser Welt.
»Ihr solltet sie vertreiben«, sagte Melmoth. »Es ist eine Übung. Ihr sollt sehen, wozu Aufmerksamkeit
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