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Glennkill: Ein Schafskrimmi

Glennkill: Ein Schafskrimmi

Titel: Glennkill: Ein Schafskrimmi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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der sein ganzes Leben lang durch die Einsamkeit getrabt war, im Grunde seines Herzens doch in allen Herden allein. Nun war geschehen, was Othello immer unvorstellbar vorgekommen war: Melmoth war alt geworden.
    Er trug das Alter, wie Othello noch kein Schaf das Alter hatte tragen sehen, aber trotzdem war es ganz unverkennbar Erdenschwere, die dem Grauen jetzt den Bart lang machte. Othello überlegte, wie ein Duell zwischen ihnen beiden jetzt wohl ausgehen würde, und erschrak. Es war ein Gedanke, den er noch nie zu denken gewagt hatte. Als sie sich zum ersten Mal begegneten, schien Melmoth nichts von der steinernen Schwere des Lebens zu wissen. Seine Hufe berührten kaum den Boden, jede seiner Bewegungen bot ein Bild vollkommen beherrschter Kraft.
    Und daneben er selbst, Othello, mit vier lächerlich jungen Hörnern und Verwirrung im Herzen. Kämpfen? Er, ein Schaf? Gegen Hunde?
    »Ich kann nicht kämpfen«, hatte er mit seiner trotzigen Jungwidderstimme geblökt.
    »Nein«, hatte Melmoth erwidert, »aber das macht nichts. Kämpfen ist nichts, was man kann. Kämpfen ist etwas, was man will. «
    Eine Frage des Wollens, so wie alles im Leben eines Schafs. Bewunderung für Melmoth stieg aus Othellos Hörnern herab, Bewunderung für all den Willen und die Weisheit, die ihn so lange durch die Einsamkeit getragen hatten. Und dann – wie konnte es anders sein – wieder Verlegenheit wegen seiner eigenen, ewigen Begriffsstutzigkeit.
    Othello blieb abrupt stehen.
    Direkt vor seinen Hufen lag Melmoth im Gras, noch immer das beklagenswerte Opfer eines Spiel-Duells. Bernsteinfarbene Koboldsaugen funkelten Othello wie aus weiter Ferne an.
    »Schattenspender«, sagte Melmoth. »Es ist besser, einen Schatten zu werfen, als im Schatten zu stehen. Aber beschattet zu werden, an einem heißen Tag wie heute – auch das ist nicht zu verachten.«
    Melmoth drehte den Kopf zu Ritchfield, der ein paar Schritte entfernt stand, noch immer verdutzt über seinen Sieg beim Duell-Spiel.
    »Ich weiß ein neues Spiel«, sagte Melmoth. »Wer-hat-Angst-vorm-schwarzen-Schaf!« Melmoth sprang graziös zurück auf alle vier Beine und wandte sich wieder Othello zu.
    »Wer hat Angst vorm schwarzen Schaf?«, fragte er Othello. Seine Augen blickten ernst; unmöglich, dass sie vor wenigen Herzschlägen noch schelmisch gefunkelt hatten. »Eine Menge Hunde, würde ich sagen, und einige Schafe, wenn sie klug sind, und natürlich der schwarze Mann. Ich sicher nicht.« Melmoth musterte Othello eindringlich. »Aber das schwarze Schaf – wovor hat das Angst?«
    Das war ihr Wiedersehen. Ein vertrautes Gefühl der Verwirrung machte sich in Othello breit. Er erklärte, was Zora über Gabriel herausgefunden hatte.
    »Wir sollten fliehen«, sagte er. »Wenn du uns führst, können wir es schaffen.«
    »Sie alle? So viele?« Melmoths Augen flogen wie eine Krähe über die Schafe, die aus respektvoller Entfernung gespannt zum Hügel heraufsahen. »Manchmal ist Alleinsein ein Vorteil.«
    »Sie werden nicht alleine gehen«, sagte Othello. »Keines von ihnen.«
    »Dann bleiben sie hier«, sagte Melmoth kurz.
    »Aber …«
    »Es ist auch besser so«, fuhr Melmoth fort. »Fliehen? Vor dem Blauäugigen? Vor dem Sensenmann? Lohnt sich nicht.« Er sah nochmals zu den Schafen hinüber. »Sie müssen nur ein wenig lernen, lernen zu lehren, den Blauäugigen das Tanzen zu lehren – und das Fürchten.«

16
    Kurze Zeit später hatte Othello die Herde um den Hügel versammelt. Es war das erste Mal, dass sie den schwarzen Widder so eifrig sahen. Trotzdem blieben sie skeptisch. Es war eine Sache, sich langsam an Melmoths seltsamen Geruch zu gewöhnen und ihn für seine Abenteuer und seinen Mut zu bewundern. Aber es war etwas ganz anderes, sich von ihm etwas beibringen zu lassen. Schließlich sprach Melmoth beinahe wie eine Ziege. Und jedes Milchlamm weiß, dass Ziegen verrückt sind.
    Melmoth hatte sich auf dem höchsten Punkt des Hügels postiert, so dass ihn alle sehen konnten. Ein heißer Wind fuhr ihm durch das zottige Fell und zerrte seine Wolle zu zitternden grauen Flammen. Seine Hörner blitzten im Sonnenlicht.
    »Wer ist euer schlimmster Feind?«, fragte Melmoth.
    »Der Metzger!« – »Gabriel!« – »Der Meisterjäger!« – »Der Wolf.«, blökten die Schafe im Chor. In letzter Zeit gab es so viele Feinde, dass man sich kaum noch zwischen ihnen entscheiden konnte.
    »Der Abgrund«, sagte Zora philosophisch.
    »Falsch«, sagte Melmoth. »Euer schlimmster Feind seid ihr

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