Glennkill: Ein Schafskrimmi
selbst! Faul und behäbig, feige und furchtsam, gedankenlos und einfältig ihr selbst!«
Jetzt war es endgültig heraus: Melmoth war verrückt. Zeitverschwendung, ihm zuzuhören, während Gabriel die Messer wetzte. Und doch – niemand traute sich, Melmoth so einfach den Rücken zuzudrehen. Melmoth beobachtete sie scharf.
»Unglaube«, sagte Melmoth, »ist immerhin ein Anfang. Ihr sollt nicht glauben, was ihr nicht versteht. Ihr sollt verstehen, was ihr glaubt. Othello, mein Freund, der Vielhörnige, Schwarze, Kühnäugige, wird euch helfen, zu verstehen.«
Stolz trabte Othello zu Melmoth auf den Hügel. Melmoth gab Othello mit den Augen einen Wink. Othello begann zu grasen. Die Schafe sahen ihm eine Weile dabei zu, ungeduldig, weil sie selbst nicht grasen durften.
»Ihr seht ein grasendes Schaf«, sagte Melmoth nach einer Weile. »Gedankenverloren auf der Jagd nach dem Grün, verträumt auf der Weide zerstreut. Und jetzt« – Melmoth gab Othello wieder ein Zeichen – »ein aufmerksam grasendes Schaf, gespannt wie die Katze vor dem Sprung, mit allen Sinnen durch das Gras spähend, mit Fühlern in alle Richtungen, bis zum Himmel.«
Othello graste mit Inbrunst. Wieder sahen ihm die Schafe ein bisschen neidisch zu.
»Wo ist der Unterschied?«, fragte Melmoth plötzlich.
Sie dachten nach.
»Die Ohren«, sagte Zora. »Er zuckt öfter mit den Ohren.«
»Er hält die Hörner tiefer«, blökte Lane.
»Er wedelt seltener mit dem Schwanz«, sagte Heide.
»Der Geruch«, blökte Maude vage. Beim Geruch konnte man selten etwas falsch machen.
»Falsch«, sagte Melmoth. »Falsch, falsch und nochmals falsch.«
»Die Nüstern?«, sagte Sara. »Er hat die Nüstern geweitet.«
»Falsch«, sagte Melmoth.
»Das Futter«, blökte Mopple. »Er frisst andere Sachen. Mehr Klee. Weniger Hafergras.«
»Falsch!«
»Es gibt keinen Unterschied«, sagte Maple.
»Fal … Richtig«, sagte Melmoth und blickte die Schafe mit funkelnden Augen an. »Ihr lernt: Die Aufmerksamkeit sieht und wird nicht gesehen. Der Einzige, der für Aufmerksamkeit sorgen kann, seid ihr selbst. Wenn ihr es bleiben lasst, seid ihr euer schlimmster Feind. Denn es gibt doch einen Unterschied. Der aufmerksame Othello – überlebt.«
»Aber Gabriel …«, begann Sara vorsichtig, doch Melmoth unterbrach sie.
»Die Aufmerksamkeit wird euch helfen, die haarlosen Gedanken der Zweibeiner aufzuspüren. Geräuschheuchler, Geruchsverräter, aber gegen die Aufmerksamkeit kommen sie nicht an.«
Melmoth studierte die Gesichter der Schafe, um herauszufinden, ob sie ihn verstanden hatten. Aber die Schafe hatten dank Georges Erklärungen viel Übung darin, verständig auszusehen, und Melmoth merkte, dass ihnen nicht so einfach auf die Schliche zu kommen war.
Dann, als die meisten Schafe schon die Hoffnung aufgegeben hatten, begann der praktische Teil des Unterrichts. Er begann allerdings weit weniger spannend, als sie es sich vorgestellt hatten. Die erste Übung bestand darin, einen dicken, runden Stein böse anzustarren, mit aller Aufmerksamkeit, zu der sie fähig waren.
»Aber Steine sind nicht gefährlich!«, wandte Heide ein.
»Täusche dich nicht!«, knurrte Melmoth. »Wenn er dir an den Kopf fliegt, kann er dich umbringen.« Melmoth kicherte, wie über einen sehr gelungenen Spaß. Heide tat einen erschrockenen Sprung von dem Stein weg.
»Es geht genau darum, dass wir den Stein für ungefährlich halten«, erklärte Melmoth. »Jedes Lamm ist aufmerksam, wenn es erst einmal begriffen hat, dass es um seine Haut geht.«
Die Schafe starrten den Stein mit geballter Aufmerksamkeit an, und wäre der Stein nicht ein Stein gewesen, er wäre unter ihren bohrenden Blicken sicher zerschmolzen wie ein Fleckchen Schnee im Frühling. Während die Schafe mit dem Stein beschäftigt waren, löste sich über ihnen die Hitze des Tages in einem gewaltigen Gewitter auf. Der Stein wurde nass und glänzte im Licht der Blitze. Donner grollte, und die Schafe tropften.
Heide war die Erste, die die Geduld verlor. »Ich will nicht mehr aufmerksam sein«, murrte sie. »Ich will endlich lernen, Schafe zu hüten wie du. Ich will lernen, gefährlich zu sein.«
»Solange du dich nicht selbst hüten kannst, wirst du auch sonst niemand hüten«, sagte Melmoth. »Und gefährlich bist du schon – für dich selbst. Sobald du gelernt hast, es nicht mehr für dich selbst zu sein, wirst du es für alle anderen sein. Einfach, was?«
Nicht alle Schafe lernten an diesem Nachmittag die
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