Glenraven
angegriffen worden war, hatte Matthiall dieses Lied gehört. Eigentlich war es unmöglich, denn er war Kin, und Jay… wenn auch nicht Machnan, so doch etwas Ähnliches… trotzdem schien sie seine andere Hälfte zu sein.
War sie es? War sie es wirklich?
In ihrem augenblicklichen Zustand konnte sie Matthialls Frage wohl kaum beantworten. Jay konnte ihm nicht in die Augen blicken und ewige Liebe versprechen oder die notwendigen Eide ablegen; sie konnte nicht schweigend dasitzen und ihre Seele für sich sprechen lassen. Trotzdem vernahm Matthiall noch immer deutlich den schwachen, magischen Gesang ihrer Seele.
Wenn Jay nicht seine Eyra war und Matthiall sie dennoch für sich beanspruchte, würde er sterben. Das war der Preis, den er zu zahlen hatte. Matthiall wollte nicht sterben - aber für die Chance, seine Eyra zu finden, würde er alles riskieren.
Matthiall zog den Dolch aus seinem Gürtel und preßte die flache Seite der Klinge an seine Stirn.
Er zog die Schultern zurück und atmete tief durch. Matthiall hielt den Dolch in seiner rechten Hand und sprach mit sanfter Stimme. »Höre mich. Ich rufe zu den Mächten der Erde und des Himmels, des Windes und der Wasser, des heißen, weißen Feuers des Tages und des dunklen Feuers der Nacht. Ich rufe die Geister meiner straba , die vor mir gegangen sind, als Zeugen, die Versprechen zu bestätigen, die mich an dich binden.« Matthiall machte eine kurze Pause und atmete tief durch. Entschlossen fuhr er fort: »Ich gebe mein Leben an diese Frau. Ich gebe mein Blut.« Mit der Spitze des Dolches stach sich Matthiall in den Finger. Ein dunkler Blutstropfen zeigte sich, und er preßte den Finger auf Jays Stirn. »Ich gebe meinen Atem.« Er atmete langsam ein, legte seinen Mund auf den ihren und atmete genauso langsam wieder aus.
»Ich gebe mein Herz.« Matthiall saß mit gekreuzten Beinen neben Jay. Jetzt hob er sie hoch und hielt sie mit einigen Schwierigkeiten so, daß ihre Beine seine Taille umklammerten und ihre Hüften sich aneinander drückten. Er spürte das Rasen ihres Herzens und die Schwäche ihres Pulses. Ihre Arme hingen schlaff an der Seite herab, und ihr Kopf baumelte leblos auf den Schultern.
Einen Augenblick überlegte Matthiall, ob er Jay genauso an sich binden sollte, wie er sich an sie gebunden hatte. Das wäre das beste, dachte er. Wenn er ihr schon seine Gesundheit, seine Stärke und sein halbes Leben gab, um das Gift aus ihrem Körper zu ziehen und es in seinem eigenen zu bekämpfen, dann hatte er auch das Recht, die Eide für sie abzulegen, die sie nicht selber schwören konnte. Wenn Matthiall sein Leben gab, um das ihre zu retten, dann sollte er sichergehen, daß Jay ihn nicht abweisen konnte, wenn sie wieder erwachte.
Aber er wollte, daß ihre Liebe von Herzen kam. Matthiall wollte weder Pflichtgefühl noch Magie oder Mitleid. Vielleicht wäre der Unterschied nicht einmal zu erkennen… aber er würde stets wissen , daß es einen Unterschied gab.
Matthiall wollte, daß Jay ihn genauso freiwillig erwählte, wie er sie erwählt hatte.
Was für Idioten die Liebe aus uns macht, dachte er.
Wenn Jay ihn abwies, wenn sie sich weigerte, die Eide abzulegen, oder ihn verließ, dann würde Matthiall genauso sicher sterben, als wäre sie nicht seine Eyra gewesen. Er wollte nicht sterben… aber er wollte auch nicht mehr ohne sie leben.
Trotzdem würde Matthiall ihre Liebe nicht erzwingen.
»Weil sie ihre Versprechen nicht aus eigenem, freiem Willen ablegen kann«, flüsterte er, »entbinde ich sie davon und trage die Verantwortung allein. Ich erkläre uns zu Eyra , und meine Seele ist untrennbar mit der ihren verbunden. Ich bin ihre andere Hälfte.«
Matthiall verhielt sich vollkommen ruhig und konzentrierte sich auf den Rhythmus von Jays Atem. Sanft folgte er dem Pfad, der zwischen ihnen entstanden war, bis zu ihrer Lunge. Langsam versank er in einer tiefen Trance… und fühlte, wie Jays Herz in seiner Brust schlug und ihr Blut in seinen Adern floß… langsam, ganz langsam wurden ihre Körper eins. Matthiall folgte dem Pfad weiter und drang tiefer in sie ein.
Er wußte von Jays Schmerz, von dem Feuer, das das Gift in ihrem Körper entfacht hatte, und von den Visionen, die ihren Geist quälten - Matthiall kannte ihren Wunsch, vom Schmerz befreit zu werden und den Qualen des Körpers zu entkommen. Er fühlte Jays Sehnsucht nach dem Tod, nach Ruhe und Frieden.
Der Teil von ihm, der eins mit ihr war, teilte ihr Verlangen, während ihr Atem durch seine
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