Glenraven
Lungen strömte und ihr Blut durch seine Adern floß. Matthiall wollte Jays Wunsch erfüllen - ihr Ruhe und Frieden schenken. Aber sein eigener Atem und sein eigenes Blut wollten leben, forderten ihn auf, den Tod als Feind zu bekämpfen und sich an dem Blut, dem Atem und dem Schlag seines Herzens, das auch ihr Herz war, zu erfreuen.
Durch die Verbindung, die zwischen ihnen bestand, rief Matthiall: Ich habe dich gefunden! Ich habe dich gefunden! Ich bin du, und du bist ich! Meine Seele, erwache und erkenne mich. Ich werde deinen Schmerz teilen. Ich werde deine Wunden nehmen. Teile, meine Geliebte, und werde eins mit mir.
Matthiall atmete ihren Atem und Jay den seinen - die Luft war wie Feuer, das alles verschlang, was sich ihm in den Weg stellte. Ihr Herz raste, donnerte, und der Schmerz schrie, peitschte und heulte durch ihre Venen - ja, betete Matthiall, ja, laß mich deinen Schmerz teilen. Gib ihn mir.
Das Gift brannte in seinen Adern, und Matthialls Sinne vernebelten sich; seine Glieder wurden taub. Er kämpfte gegen die Taubheit an, aber das Gift der Voragel war nicht Jays einziger Schmerz. Erinnerungen drangen auf ihn ein - Bilder, die er nicht verstand. Ein schlanker, gutaussehender Mann mit blassen Augen lag im Bett mit einer Frau, die nicht dorthin gehörte. Matthiall fühlte, wie Jay zurückzuckte. Er fühlte, wie der Schmerz sie mitten ins Herz traf, und er rannte mit ihr, als sie sich umdrehte und floh. Alles verschwamm; es gab einen kurzen Blitz, und ein neues Bild erschien. Ein dunkelhaariger Mann, der seine Faust im Zorn erhoben hatte - und diese Faust schlug ihr ins Gesicht. Matthiall fühlte, wie er sich versteifte und den Mann zu zerreißen versuchte; doch er konnte die Erinnerung nicht verändern. Jay lag zusammengekauert auf dem Boden und schrie, während ein Fuß in ihren Bauch trat… immer und immer wieder. Überall war Blut… so viel Blut, und sie weinte. Jay war schwanger gewesen und hatte in diesem Augenblick das Kind verloren. Matthiall spürte ihren Zorn und ihren Verlust wie seinen eigenen. Es wurde dunkel, und Matthiall kämpfte dagegen an, bis das Bild eines weiteren Mannes und eines weiteren Bettes erschien. Wieder lag ein Fremder in dem Bett. Aber als der Mann, den Jay liebte, diesmal aufstand, um sie zu begrüßen, war der fremde Körper unter ihm… ein Mann . Die Männer lachten und zuckten mit den Schultern. Einer von ihnen breitete die Arme aus und rief Jay zu sich. Wieder drehte sie sich um und rannte weg. Ihre Seele war zerrissen von Verlust, Betrug, Verwirrung und Scham. Und es gab weitere Bilder; die meisten erschienen nur als kurze Ausschnitte - Gesichter auf der Straße und in einer Unmenge von Räumen, Gesichter, die sie mit kalten, feindseligen Blicken beobachteten - Jay fühlte ihre Vorwürfe, und Matthiall fühlte sie durch Jay.
So viel Schmerz.
Matthiall nahm soviel von dem Schmerz, wie er konnte. Dunkle, häßliche Erinnerungen brachen über ihn herein, bis er endlich den Gesang des Giftes hörte. Es rief nach ihm, lockte ihn mit Versprechen von Ruhe und Frieden, von Orten, wo es keinen Schmerz mehr gab - aber auch keine Freude.
Er atmete mit ihr.
Lebe, sagte Matthiall. Der Schmerz läßt nach. Er wird immer schwächer. Wir können den Schmerz ertragen. Wir können ihn überwinden und hinter uns lassen. Ich bin du, und du bist ich. Wir sind nicht allein - du bist bei mir, und ich liebe dich. Du wirst nie wieder allein sein.
Was du für mich bist, werde ich für dich sein.
Meine Seele, meine Liebe.
Sein Atem, ihr Atem - alles eins.
Jay atmete allmählich ruhiger.
Ich gehöre dir, sagte Matthiall. Ich bin dein. Ich gehöre dir.
In diesem Moment spürte er, wie sich Jays Bewußtsein wieder regte. Matthiall triumphierte. Atme meinen Atem, drängte er. Laß mein Herz für dich schlagen. Laß mein Blut dich ernähren.
Matthiall spürte ihre Verwirrung. Jays Seele kam auf ihn zu und umarmte ihn. Das Feuer ihres Lebens brannte in ihm - Jay strömte durch ihn hindurch, und Matthiall fühlte sich heil. Ein Teil ihres Ichs griff endlich wieder nach dem Leben. Jay erlaubte ihm, die Kontrolle über ihre Atmung zu übernehmen, und Matthiall ließ sie sanft abflachen. Er machte ihren Atem tiefer und reicher. Mit jedem Atemzug sog Jay kühle, klare Luft ein. Mit jedem Atemzug erlosch das Feuer immer mehr.
Das quälende Koma war besiegt, und Jay fiel ohne aufzuwachen in das gesündere Reich von tiefem, erschöpftem Schlaf.
Sie lebten. Jay war seine Eyra und Matthiall
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