Glenraven
ganz extrem; findest du nicht auch?« Sie fuhr mit dem Finger über die einzelnen Einträge.
Jay beobachtete ihre Freundin.
»Ja ja«, murmelte Sophie. »›Ich bin Amerikaner‹, ›Ich verstehe nicht‹, ›Ich bin ein internationaler Volltrottel, der nur Müll im Hirn hat und den Pott nicht findet‹.«
Jayjay konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen.
Sophie machte die Angelegenheit zu einer richtigen Show, als sie mit nasaler Stimme fortfuhr: »›Was ist los?‹, ›Wieso? Weshalb? Warum?‹, ›Wo hält die Postkutsche?‹, ›Wo ist das Postamt?‹, ›Was soll ich wegen… ‹«
Sophie verstummte abrupt. Verwirrung und Furcht zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, und sie wurde leichenblaß.
Jayjay erschrak und spürte, wie ein Schauer über ihren Rücken lief. Sie nahm Sophie das Buch aus der Hand und las die linke Spalte.
›Wo hält die Postkutsche?‹
›Wo ist das Postamt?‹
›Was soll ich wegen Lorin unternehmen?‹
»›Was soll ich wegen Lorin unternehmen?‹« Jay markierte die Stelle mit dem Daumen und rieb sich mit der anderen Hand über ihre Schläfe. Sie spürte wieder ihre Migräne. In Glenraven gab es wohl kaum Aspirin. Jayjay wollte den kleinen Vorrat, den sie mitgenommen hatte, so lange wie möglich aufsparen. »Wer zum Teufel ist Lorin , und was ist an diesem Satz nützlich ?« fragte sie.
Sophies Gesicht war noch immer weiß wie ein Bettlaken. Sie lag auf dem Bett, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen.
»Soph? Alles in Ordnung?«
Sophie antwortete nicht.
Jayjay bückte sich, um ihrer Freundin in die Augen zu sehen. »Soph. Komm wieder zu dir! Mach schon. Sophie! Rede mit mir! Was ist denn los… und was hat diese Frage zu bedeuten? Lorin… wer ist Lorin?«
Sophie drehte sich auf den Rücken und zog die Knie an. Sie starrte mit leeren Augen an die Decke. Jayjay wollte gerade aufstehen, um Hilfe zu holen, weil sie glaubte, ihre Freundin habe einen Schock erlitten, als Sophie flüsterte: »Wie konnte es davon wissen?«
Jay blickte erneut in das Buch… und spürte, wie auch ihr der Schock in die Glieder zu fahren drohte.
›Wo hält die Postkutsche?‹
›Wo ist das Postamt?‹
›Willkommen, Helden. Wir warten seit ewigen Zeiten auf den Tag Eurer Ankunft.‹
Jay ließ das Buch fallen und begann zu zittern.
Was zur Hölle war hier los? Helden? Was für Helden ? Und wer hatte gewartet?
Jayjay bückte sich und griff nach dem Buch. Wieder spürte sie dieses kleine elektrische Zing in ihren Fingern. Es war erneut stärker geworden. Warum hatte sie das Buch nicht einfach im Laden liegenlassen, dachte Jay.
Sie hätte auf Amos hören sollen, als er ihr einen Führer für Spanien andrehen wollte. Spanien war eigentlich gar keine schlechte Idee - jeder fuhr nach Spanien. Dort gab es jedenfalls sanitäre Anlagen, die diese Bezeichnung auch verdienten, Elektrizität und elegante Großstädte… und spanische Bücher würden bestimmt keine eigenartigen Botschaften enthalten.
Plötzlich läuteten Glocken. Jayjay hob den Kopf und stand auf. Sie öffnete die Balkontür und trat hinaus. Hunderte von Glocken in den verschiedensten Variationen läuteten überall. Das ganze Tal schien von ihrem Klang erfüllt zu sein, der sich zu einer lebhaften Melodie vereinigte - einer zwar zufälligen, aber perfekten Antiphonie. ›Heimat‹ , verkündeten sie. ›Dies ist deine Heimat. Willkommen daheim.‹
Jay war absolut sicher, daß es in Spanien solche Glocken nicht gab.
Glenraven war nicht ihre Heimat. Jay lebte noch immer in Peters/North Carolina. Daheim war der Schmerz. Glenraven existierte gar nicht… es war zu schön, um wahr zu sein. In Glenraven wurde sie von einem Buch als ›Heldin‹ bezeichnet und von Glockengeläut begrüßt. Solche Dinge würden in Peters niemals geschehen.
Solche Dinge würden nirgendwo sonst geschehen… oder vielleicht doch?
Sophie hatte sich inzwischen aufgesetzt und kaute auf ihrer Lippe. Sie wirkte verstört. Lorin, dachte Jay. Lorin. Wer zum Teufel war Lorin , daß allein der Name ihre Freundin so krank machte? Die Frage war von Bedeutung - ebenso wie die Sache mit den ›Helden‹. Jay beschloß, ihre Freundin nicht darauf anzusprechen, solange Sophies Gesicht noch diese graue Farbe besaß und ihre Augen diesen gehetzten Blick aufwiesen.
Jayjay begann, das Buch genauer zu untersuchen. Offensichtlich barg es ein Geheimnis. Was konnte ein Buch dazu veranlassen, seinen Inhalt zu verändern, so daß er den Wünschen des Lesers
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