Glenraven
finden… Taverne, Kneipe oder was auch immer. Das ist uns egal. Wir würden ja sehr gerne hier essen, aber wir wollen jetzt essen.«
Der kleine Mann starrte Jay an, als wären ihr plötzlich zwei Drachenköpfe aus dem Hals gewachsen. Einen Augenblick lang stammelte er unverständliches Zeug. Dann sagte er: »Ihr wollt unter dem Dach unseres Herrn wohnen und Euch weigern, an seinem Tisch zu speisen?« Sein Ton machte deutlich, daß das in seinen Augen eine grauenhafte Tat war. Jay wußte, daß sie für ihn zu einem psychotischen Massenmörder geworden war.
»Nein, natürlich würden wir so etwas niemals tun«, mischte sich Sophie ein und lächelte. Sie tat ihr Bestes, um den armen Mann zu beruhigen.
Der Portier schnaufte, bedachte die beiden Frauen mit einem entrüsteten Blick und sagte: »Ich werde Euch abholen, wenn es soweit ist.« Er gab der Kammerzofe einen scharfen Befehl, und das Mädchen stürzte davon wie eine Maus, der eine Katze auf den Fersen ist. Der kleine Mann stolzierte beleidigt hinterher.
»Immer noch nichts zu essen«, meckerte Sophie.
Jayjay stand in der Tür und blickte dem Portier hinterher. »So ist das nun mal«, erwiderte sie.
Sophie lehnte sich an die Wand und blickte fragend zu ihrer Freundin. »Stand in deinem Reiseführer wirklich ›Ich bin am Verhungern‹?«
Jay nickte.
»Ein merkwürdiger Satz für einen Reiseführer.«
Jayjay dachte einen Augenblick über Sophies Feststellung nach. Es war wirklich ein merkwürdiger Satz. Fodor’s Reiseführer enthielten niemals Umgangssprache. Sie erklärten dem Touristen, wie man Preise oder Richtungen in der Landessprache erfragte… und das alles auf eine möglichst unverfängliche Art und Weise. Diese Bücher wurden von Leuten gemacht, die genau wußten, wie leicht man etwas Falsches sagen konnte. Unbedarfte Reiseamateure aus North Carolina oder New York sollten keinen internationalen Zwischenfall verursachen, indem sie irgend etwas wiedergaben, das sie in ihrem Reiseführer gefunden hatten.
Aber in dem Augenblick, als Jay das Buch zur Hand genommen hatte, hatte sie der Kammerzofe erklären wollen, daß sie am Verhungern sei… und tatsächlich - auf Seite 546 unter N ÜTZLICHE S ÄTZE - hatte sie die Worte gefunden. Ich bin am Verhungern - Ag dru gemmondlier - Ach troo jemoan-dlee-air . Drei ordentliche kleine Spalten: Englisch, Galti und Lautschrift.
Jay sah die Zeichen noch immer vor ihrem geistigen Auge - genau zwischen ›Ich verstehe nicht‹ und ›Ich bin Amerikaner‹.
Fodor’s Reiseführer begleiteten sie bereits seit Jahren auf allen Auslandsreisen, aber nie zuvor hatte Jay eine derartige Formulierung entdeckt. Jayjay blätterte zum Ende des Buches - Seite 546, N ÜTZLICHE S ÄTZE . Sie fuhr mit dem Finger über die Zeilen.
›Ich verstehe nicht.‹
›Ich bin Amerikaner.‹
›Wie heißen Sie?‹
Kein ›Ich bin am Verhungern‹, sondern ›Wie heißen Sie?‹ .
Jay atmete tief durch. Sie untersuchte jedes einzelne Wort auf der Seite. Neben Sätzen, die die Verwendung der Sprache betrafen, konnte man nach der Uhrzeit, medizinischer Hilfe, Postämtern und Banken fragen. Jay entdeckte auch den besonderen Eintrag, der in jedem Fodor’s zu finden war - ›Wo sind die Toiletten?‹ Das war wohl der wichtigste Satz in allen Sprachen der Welt.
Nirgendwo wurde dem Touristen erklärt, wie man ›Ich bin am Verhungern‹ übersetzt. Aber es hatte hier gestanden - wirklich ! Jay hatte die Worte gesagt, und die Kammerzofe hatte sie verstanden. Allerdings hatte das Mädchen sie ein wenig zu wörtlich genommen. Jayjay hatte offensichtlich nicht gesagt ›Ich bin sehr, sehr hungrig‹ sondern ›Ich sterbe aufgrund von Unterernährung‹.
»Ich kann die Stelle nicht finden.« Jayjay legte das Buch aufs Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und ging unruhig auf und ab. »Sie ist einfach verschwunden.«
»Aber sie war doch vorhin noch da«, sagte Sophie. »Sie ist bestimmt nicht weggelaufen.«
»Dann sieh doch selbst nach!«
Sophie grinste. »Vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken. Ich bin nämlich immer noch am Verhungern .« Sie schlenderte zum Bett, setzte sich und nahm den Fodor’s. Einen Augenblick lang starrte Sophie verwirrt auf das Buch. »Es fühlt sich an wie damals, als ich es zum ersten Mal in der Hand gehabt habe.«
»Wovon redest du?«
»Das Kribbeln. Ich habe es damals für statische Energie gehalten, aber… « Sophie schüttelte den Kopf und schlug das Buch auf. »Manchmal ist es wirklich
Weitere Kostenlose Bücher