Glenraven
Sophie.
»In diesem Teil der Welt werden Pferdediebe wahrscheinlich immer noch gehängt«, widersprach Jayjay.
»Das ist das geringste Problem«, erwiderte Sophie.
Jay dachte einen Augenblick darüber nach und stimmte schließlich zu. »Zeit ist im Augenblick wichtiger. Also… werden wir Pferdediebe.«
Jayjay führte zwei Pferde aus ihren Boxen und band sie am Tor fest. Dann rannte sie in die Sattelkammer und kehrte kurze Zeit später mit einem Sattel und der dazugehörigen Schabracke wieder zurück. Sie warf die Decke über eines der Tiere, legte den Sattel darüber und zog den Gurt fest. Sophie bemerkte, wie das Pferd tief einatmete und den Bauch aufblähte. Jayjay schien es nicht bemerkt zu haben.
»Geh ein Stück mit ihm auf und ab, und zieh den Gurt noch mal fest, bevor du in den Sattel steigst«, sagte Sophie.
Jayjay, die gerade das Zaumzeug holen wollte, wandte sich um. »Warum?«
»Das hier hat sich dafür entschieden, seinen Gurt auf der Reise locker zu tragen… im Gegensatz zu dir.«
Jayjay musterte das Pferd. »Ich wünschte, ich hätte mein Fahrrad noch, du lebender Gulasch.« Das Tier zuckte mit den Ohren und warf Jayjay einen verächtlichen Blick zu.
Sophie hatte die Hufe geprüft, ihr Pferd gesattelt und aufgezäumt, den Gurt festgezogen, die Satteltaschen beladen und ausbalanciert, bevor Jay ihr Tier auch nur dazu gebracht hatte, das Gebiß zu akzeptieren. Jay hob den Kopf und sah, wie Sophie bereits ihr Packpferd aus dem Stall führte. Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus.
»Mir tut das alles sehr leid, Sophie. Ich hätte niemals zugelassen, daß du mitkommst, wenn ich das mit den Pferden gewußt hätte.«
»Ich weiß«, erwiderte Sophie lakonisch. Sie zog die Zügel ihres Packpferdes durch einen der Metallringe im hinteren Teil des Sattels und knotete sie fest. »Ich weiß. Mach dir keine Vorwürfe. Ich habe mich ja selbst eingeladen… und wie du siehst, komme ich ganz gut zurecht.« Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber Sophie wollte Jay nicht noch mehr beunruhigen. Sie seufzte und half ihrer Freundin, die immer noch Probleme mit ihren Satteltaschen hatte, das Packpferd herzurichten.
Ein paar Minuten später saßen die beiden Frauen auf ihren Tieren und warteten. Uniformierte Männer rannten geschäftig über den Hof und versperrten den Weg in die Freiheit. Inzwischen hatte sich die Sonne über die Berggipfel am östlichen Horizont geschoben, und das Wethquerin Zearn war erwacht. Zum Glück schien niemand die beiden Fremden zu bemerken, die sich ein wenig abseits der morgendlichen Betriebsamkeit im Schatten der Ställe verbargen.
»Wie kommen wir bloß hier raus?« fragte Sophie nervös. Wenn sie nur ein paar Minuten früher aufgebrochen wären, dann hätten sie das Wethquerin Zearn bei Tagesanbruch schon weit hinter sich gelassen.
Plötzlich läuteten überall in der Stadt die Glocken. Die uniformierten Männer riefen unverständliche Worte und rannten in Richtung Hauptgebäude… zum Frühstück.
Jay konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. »Das war unsere Rettung.«
Sophie stöhnte.
Die beiden Frauen ritten aus dem Stall und über den menschenleeren Hof; dann ging es die Straße hinunter.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Hyultif folgte der Machnan-Dienerin ins Frühstückszimmer der Herrin. Aidris hob den Kopf und lächelte ihm selbstgefällig zu. Sie wußte, daß Hyultif die verlangten Informationen beschafft hatte, sonst hätte er nicht gewagt, seiner ›Mutter‹ unter die Augen zu treten.
Aidris nahm das Tablett an sich, das ihr die hagere Machnan anbot, und scheuchte das Mädchen hinaus. Sie stellte ihr Frühstück auf den Tisch und lüftete die silberne Frischhalteglocke. Es gab hartes braunes Brot, einige reife Beeren, etwas Käse, Wein und fast rohes Fleisch - perfekt. Das plötzliche Verschwinden des Kochs, der sich bei Aidris über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte, wirkte auf die Motivation des Küchenpersonals offensichtlich wie ein Wunder. Aidris schnitt eine große Scheibe Brot ab und belegte sie mit etwas Käse. Dann wandte sie sich an den geduldigen, unterwürfigen Hyultif. »Was hast du herausgefunden?«
Hyultif hockte sich vor ihre Füße und legte die Schnauze in ihre Hand - eine Angewohnheit, die er aus seiner Kindheit beibehalten hatte. Der Rückfall in kindliches Verhalten, bedingt durch das Verlangen nach Trost, beunruhigte Aidris wesentlich mehr als die Tatsache, daß sie in einem schwarzen Spiegel ihr Gesicht bis auf
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