Glenraven
die Straße nur noch als schmaler, brauner Streifen zwischen hohen Bäumen zu erkennen war. »Sophie«, sagte Jay. »Ich glaube, das reicht. Wir werden sie von hier gerade noch so erkennen können. Vielleicht entdecken wir irgendeinen Hinweis, ob sie uns auf der Spur sind. Aber ich glaube nicht, daß sie uns sehen werden.«
Sophie stieg aus dem Sattel. Jay entschloß sich, auf ihrem Pferd zu bleiben, um besser sehen zu können. Wenn sie die Situation von verschiedenen Blickwinkeln aus beobachteten, hatten sie wahrscheinlich größere Chancen, etwas zu entdecken. Außer dem leisen Rauschen des Windes in den Baumwipfeln war es vollkommen still - der Wald erstickte jedes Geräusch.
Jay und Sophie warteten… lange, lange Zeit. Die Reiter waren wahrscheinlich doch noch weiter weg gewesen, als sie ursprünglich gedacht hatten. Gab es vielleicht mehrere Gruppen? Möglich… oder vielleicht auch nicht.
Sophie deutete nach links, und Jayjay blinzelte durch die Bäume. Irgend etwas bewegte sich auf der Straße. Jay erkannte uniformierte Männer auf galoppierenden Pferden. Die ganze Straße war von einer bunten, sich bewegenden Masse bedeckt - ein Fluß aus Menschen. Als sich die Kolonne auf gleicher Höhe mit ihnen befand, hörten die Frauen auch wieder den Hufschlag. Er durchdrang die alles verschlingende Stille des Waldes und war beinahe so laut wie das Klopfen ihrer Herzen.
»O mein Gott!«
Jay blickte zu ihrer Freundin. Sophie starrte entsetzt auf die Straße und murmelte: »So viele? Und alle sind hinter uns her?«
Der Strom aus Reitern ebbte ab, wurde zu einem Plätschern und war schließlich verschwunden. Jayjay schauderte. »Wo sind wir da bloß reingeraten?«
»Schwierigkeiten.« Sophies Gesicht sagte mehr als nur das eine Wort. Es sagte: Vielleicht war meine Vorahnung nicht ganz vollständig. Vielleicht wird keine von uns Glenraven lebend wieder verlassen.
Jayjay hob das Kinn und zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. »Wir kommen hier schon irgendwie wieder raus.«
»Sicher.« Sophies leidenschaftslose Erwiderung drehte Jay den Magen um. Sie hatte genau das Gegenteil von dem gesagt, was sie eigentlich dachte.
Im Gegensatz zu Sophie war Jayjay noch optimistisch. Sie hatte die feste Absicht, zusammen mit Sophie lebend nach Hause zurückzukehren. Wenn sie es schon nicht fertigbrachte, daß Sophie daran glaubte - sie konnte es ja selbst kaum glauben -, dann würde sie nichtsdestotrotz zumindest alles versuchen . Und im Augenblick mußte sie dafür nicht mehr tun, als einfach weiterzureiten.
»Laß uns noch ein paar Minuten warten, bevor wir auf die Straße zurückkehren. Sie werden irgendwann bemerken, daß sie an uns vorbeigeritten sind -, und umkehren, und dann möchte ich ihnen nicht im Weg stehen. Sobald wir wissen, was uns erwartet, machen wir, daß wir fortkommen.«
»Ist gut.« Sophie lehnte sich an einen Baum. Die Zügel hatte sie locker um ihre Finger gewickelt.
Jay war sicher, daß Sophie ihre gespielte Zuversicht bemerkte, aber mehr konnte sie wirklich nicht tun. Sie machte es sich in ihrem Sattel bequem und lehnte sich zurück. Die Warterei konnte sehr, sehr lang dauern.
Überall surrten und summten Insekten. Jayjay lauschte dem Gesang der Vögel. Sie erkannte das Zwitschern der Spatzen und den Ruf einer Eule, die noch nicht zu Bett gegangen war.
Plötzlich juckte es wieder zwischen ihren Schulterblättern.
Jay schauderte und lauschte in den Wald hinter sich - nichts. Die Pferde blieben ruhig, und die üblichen Geräusche des Waldes wurden durch nichts Ungewöhnliches unterbrochen. Trotzdem fühlte Jay sich… irgendwie beobachtet.
Das ist ja lächerlich, dachte sie. Ich benehme mich wie ein Idiot. Die Gefahr lauert auf der Straße - hier sind wir sicher. Doch Jays Nackenhaare sträubten sich.
Sophie blickte verängstigt zu ihrer Freundin. Ihr Atem ging immer schneller, und ihre Augen weiteten sich. Auch Sophie spürte es.
Hinter mir. Ich brauche mich nur umzudrehen, dachte Jayjay.
Für einen Augenblick fühlte sie sich wieder wie ein achtjähriges Mädchen, das sich ängstlich unter seiner Bettdecke verkroch, während der kalte Nachtwind in das Zimmer blies… einen Augenblick lang war sie wieder acht Jahre alt und wußte, daß irgend etwas Unheimliches sie beobachtete. Ein Geist aus weißem Nebel, in der Gestalt einer Frau mit schrecklichen Zähnen und glühenden Augen. Warten…
Das Gefühl verflog so schnell, wie es gekommen war. Jay war wieder erwachsen und ließ sich nicht
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