Gletschergrab
ist vielleicht ein unnötiges Risiko. Wir können eigentlich nicht mehr tun.«
»Ich will diese Mörder mit eigenen Augen sehen, Steve. Ich will sehen, was das für Menschen sind. Und ich will absolut sichergehen, dass sie nicht ungeschoren davonkommen. Dafür muss ich sorgen, und zwar an Ort und Stelle.«
»Aber …«, versuchte Steve einzuwenden.
»Ihr könnt nicht einfach eure Cowboyspiele spielen, wo es euch gerade passt.«
»Unsere was?«
»Du hast diese Kerle in der Kneipe gesehen. Du weißt, was sie da oben auf dem Gletscher getan haben. Was sind das für Menschen, die so vorgehen?«
»Trotzdem bist du zu mir gekommen, vergiss das nicht.«
»Ich bin zu dir gekommen, um an Informationen heranzukommen.«
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»Und Hilfe. Das ist es nämlich, was dir so gegen den Strich geht.«
»Quatsch!«
»Nein. Ich kenne diese Einstellung. Wir sind die Aggressoren.
Wir sind die Militärmacht. Wir zetteln Kriege an. Wir sind die Bösen. Aber sobald irgendwas schief läuft, sollen wir den Retter in der Not spielen. Wir dürfen Milliarden in eure seltsame Bauerngesellschaft pumpen, aber werden hinter Gitter gehalten, als wären wir gemeingefährlich. Wir dürfen uns in Kriege einmischen, die in Europa entfacht wurden, und die Russen in Schach halten und die Araber unter Kontrolle bringen, aber alle gehen auf die Barrikaden, wenn wir …«
»Mensch, tu doch nicht so scheinheilig. Ihr habt Charlie Chaplin aus dem Land gejagt.«
»Hör mal, Kristín, weshalb streiten wir uns eigentlich?«
»Ich will rauf auf den Gletscher.«
»Du legst dich mit bewaffneten Soldaten an.«
»Die Leute von der Rettungsmannschaft werden auch da sein.
Die können uns doch nicht einfach alle abknallen. Außerdem hat Júlíus die Nachricht nach Reykjavik weitergegeben. Sie können das nicht mehr lange geheim halten, was auch immer sie da oben auf dem Gletscher machen.«
»Ist bei euch irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Jón, der auf einmal in der Wohnzimmertür stand. Der alte Mann war die meiste Zeit für sich geblieben, nachdem sie aus dem Stall zurückgekehrt waren, und Kristín überlegte, ob ihm vielleicht der Vertrauensbruch Miller gegenüber zu schaffen machte.
Vielleicht hatte er aber auch Gewissensbisse, weil er die Amerikaner heimlich unterstützt hatte.
»Alles in schönster Ordnung«, erwiderte Kristín. »Aber was ist mit dir? Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Was für eine Rolle spielt das?«, sagte Jón. »Ich habe nicht 219
mehr viel vor mir. Das spielt überhaupt keine Rolle. Nicht die geringste.«
»Aber ist …«
Jón fiel Kristín ins Wort, denn er wollte das Thema beenden.
»Falls ihr wirklich auf den Gletscher wollt, solltet ihr euch zwei oder drei Stunden hinlegen«, sagte er. »Ihr könnt das gern in dem Zimmer meines Bruders tun.«
Sie schauten einander an, und Kristín nickte widerwillig. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt geschlafen hatte. Sie verspürte keine Müdigkeit, aber es war sicher vernünftig, sich etwas auszuruhen. Jón führte sie nach oben in das Zimmer neben der Treppe, in dem sich ein großes Bett und ein Schreibtisch befanden. Gelbes Linoleum auf dem Boden, die Wände mit Büchern bedeckt. Im Vergleich zum Wohnzimmer war es in diesem Raum kalt.
Kristín machte es sich auf dem Bett bequem. Steve wollte sich auf den Boden legen, aber sie rutschte zur Seite und machte Platz für ihn. Er legte sich neben sie. Sie fand keine Entspannung, fühlte aber, wie die Müdigkeit in ihr hochstieg und sich von den Zehenspitzen bis zum Kopf ausbreitete. Als sie die Augen schloss, spürte sie zu ihrer Verwunderung ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gehabt hatte.
»Ich danke dir für deine Hilfe, Steve«, sagte sie.
»Keine Ursache«, erwiderte er.
Sie öffnete die Augen und drehte sich zu ihm.
»Doch. Du hättest mir nicht zu helfen brauchen. Du hättest mich ganz einfach nach Hause schicken und das Ganze vergessen können. Du warst mir nichts schuldig.«
»Na, hör mal, eine Frau in Bedrängnis …«
»Ja, eine Frau in Bedrängnis. Und du bist der weiße Ritter.«
»Ich bin kein weißer Ritter, ich bin nur ein Ami von der Basis.«
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»Ja, du bist bloß ein Ami von der Basis.«
Der Ton war anders. Er schaute sie an. Ihre Gesichter berührten sich beinahe. Sie wusste nicht, was da geschah. Was hatte sie nicht alles durchgemacht, die Verfolgungsjagd, die Gefahr, die Angst wegen Elías, die Angst um ihr eigenes Leben, ihre ohnmächtige Wut – trotzdem hatte sie
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