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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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gebrochen und zwei Rippen, von denen eine den rechten Lungenflügel durchstoßen hatte. Der rechte Arm war an zwei Stellen gebrochen. Ganz allein saß Kristín im Wartezimmer. Von Gewissensbissen gequält, starrte sie ununterbrochen vor sich hin und stieß ab und zu einen leisen Jammerlaut aus. Sie hatte ihren Bruder losgeschickt, um eine Flasche Sprudel zu holen, und jetzt lag er im Sterben.
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    Ihre Eltern brachen den Urlaub auf den Kanarischen Inseln ab und flogen zurück, aber erst, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass Elías wirklich schwer verletzt war. Sie gaben Kristín die Schuld an dem Unfall, aber auch daran, dass sie ihnen den Urlaub verdorben hatte. Sie war sich nicht sicher, worüber sie sich mehr aufregten. Sie hatte auf ihren Bruder aufzupassen. Das hatte sie immer getan. Diese Verantwortung hatten sie ihr auferlegt, und sie hatte versagt.
    Sie würde die Gewissensbisse nie loswerden, obwohl Elías den Unfall überlebte und sich wieder voll und ganz davon erholte. Das saß in ihr wie ein bösartiges Geschwür, das man nicht wegschneiden konnte. Sie war davon überzeugt, dass alles, was Elías jemals im Laufe des Lebens zustoßen würde, auf diesen Unfall und die Kopfverletzung zurückzuführen war. Von diesem Gedanken, so absurd er auch war, hatte sie sich nie wieder lösen können. Ihretwegen war er womöglich empfindlicher, verletzlicher und anfälliger, sollte er stürzen oder einen Unfall haben. Deswegen widerstrebte ihr sein Abenteuerdrang so, das Fallschirmspringen, Tauchen, die Gletscherbesteigungen. Deswegen versuchte sie, ihn zu bremsen, so gut sie konnte. Ihr kam es so vor, als würde er das alles nur tun, um sie zu provozieren. Sie hatte ihm nie von ihren Ängsten erzählt oder von den Gewissensbissen, die sie plagten.
    Sie wagte nicht, daran zu rühren. Vielleicht bewahrte sie es in ihrem Innern auf, bis sie auf diese Erinnerungen angewiesen war. Wie jetzt.
    »Warte auf mich«, schrie Steve hinter ihr, und sie sah, dass sie bereits einen großen Vorsprung vor ihm hatte.

    Ratoff betrachtete die zwei Punkte, die sich von Süden näherten und den Radarschirm im Kommunikationszelt hinaufkrochen.
    Gleichzeitig sah er auf dem Schirm die Rettungsmannschaft von Norden anrücken. Er hatte einige Mitglieder der Spezialeinheiten losgeschickt, um sie aufzuhalten. Diese beiden 237

    Pünktchen im Süden waren ihm allerdings ein Rätsel. Er überlegte, ob das tatsächlich dieses verrückte Mädchen aus Reykjavik sein konnte, die Schwester des jungen Mannes, und sein Gesicht verzog sich zu einem fratzenhaften Grinsen. Sie hatte es geschafft, Simon und David abzuschütteln und den einen sogar ins Krankenhaus zu bringen.
    Er hatte ihnen bereits ein Empfangskomitee entgegengeschickt, das sie am Gletscherrand erwarten würde, und auf dem grünen Schirm sah er, dass die Leute, die er auf die Rettungsmannschaft angesetzt hatte, Stellung bezogen hatten.
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    Júlíus, der Übungsleiter, sah, wie sich die Soldaten auf schnellen Motorschlitten näherten, die mit ihren Scheinwerfern das nächtliche Dunkel erhellten. Sie trugen Helme und Schneebrillen, sodass man ihnen nicht ins Gesicht sehen konnte.
    Auf dem Rücken hatten sie Maschinenpistolen. Es waren um die zwanzig, die plötzlich auf dem Gletscher anhielten und in Stellung gingen. Es schien, als verliefe dort eine unsichtbare Linie, die es zu verteidigen galt. Júlíus’ Mannschaft bestand aus siebzig Männern und Frauen auf Skiern, Motorschlitten und zwei Raupenfahrzeugen. Als sich die Soldaten näherten, gab Júlíus Anweisung, das Tempo zu verringern, bis sie schließlich zehn Meter vor den Soldaten stehen blieben.
    Júlíus saß in dem einen der Raupenfahrzeuge und wies seine Leute an, sich ruhig zu verhalten, während er sich mit den Soldaten unterhielt. Er bemerkte, wie einer vom Motorschlitten herunterstieg und auf sie zukam. Die anderen Soldaten stiegen ebenfalls ab und folgten ihrem Truppenführer. Sie trafen sich auf halbem Weg. Der Truppenführer nahm seinen Schal vom Mund, aber trotzdem konnte Júlíus wegen der Schneebrille seine Gesichtszüge nicht erkennen. Er wirkte aber wie ein ganz junger Mann, viel jünger als er selbst. Der Truppenführer richtete seine Maschinenpistole auf ihn.
    »Ihr seid in das Sperrgebiet des amerikanischen Militärs auf dem Vatnajökull eingedrungen. Ich habe den Befehl, euch den Zutritt zu verwehren.«
    »Was meinst du mit Sperrgebiet des amerikanischen Militärs?«, antwortete Júlíus. »Uns ist

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