Gletschergrab
Kraftakt.
Kristín wusste nicht, was sie oben auf dem Gletscher erwartete. Sie hoffte, dass sie auf Júlíus und vielleicht sogar auf Leute von der Küstenwache stoßen würde. Sie hatte die Polizei darüber informiert, was hier vor sich ging. Sie hatte ebenfalls einen Bekannten bei der Nachrichtenredaktion des Isländischen Fernsehens angerufen, und die Medien würden bald dem Gerücht nachgehen, dass sich amerikanische Truppeneinheiten auf dem Gletscher aufhielten und dass dort oben ein deutsches Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg aufgetaucht war. Die Amis konnten das nicht länger geheim halten, und sie wollte dabei sein, wenn alles aufgedeckt würde.
Sie hatte so gut wie kein Auge zugetan, seitdem sie vor zwei Tagen in aller Herrgottsfrühe aufgewacht war und ihr davor graute, sich im Büro wieder mit Randolf herumschlagen zu müssen. Als sie jetzt durch den tiefen Schnee zum Gletscher hinaufstiegen, machte sich zum ersten Mal Müdigkeit bemerkbar. Sie dachte an Steve und die Stunden, die sie in Jóns Haus zusammen gewesen waren, und malte sich eine gemeinsame Zukunft mit ihm aus. Sie hatte ihm gesagt, dass sie bereit war, sich dieser Beziehung zu stellen, wenn all dies hinter ihnen lag. Sie fühlte sich besser, weil er da war.
»Weißt du, was ich an dir gesehen habe?«, hatte er gefragt, während sie auf dem Bett in Jóns Haus ausruhten.
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»Was du an mir gesehen hast?«
»Als ich dich zum ersten Mal traf.«
»Damals auf diesem Empfang?«
»Du warst ziemlich einsam, du hast nur wenige Leute gekannt.«
»Empfänge sind nicht meine Lieblings…«
»Du hast diesen Gesichtsausdruck.«
»Gesichtsausdruck?«
»Hat dir das noch nie jemand gesagt?«
»Was für einen Gesichtsausdruck?«
»Du bist nicht nur schön, sondern du hast auch so einen Gesichtsausdruck, der einen Mann verrückt machen kann. Du hast einen ziemlich entschlossenen Gesichtsausdruck, aber du hast auch etwas Aufreizendes, etwas … die Augen und der Mund …«
»Redest du immer so viel, wenn du …«
»Nein, nein, nein, überhaupt nicht. Ich habe bloß daran gedacht, wie es war, als ich dich das erste Mal traf«, sagte er und lächelte.
Sie musste an Elías denken. Für ihn wäre dieser Aufstieg ein Kinderspiel gewesen, und er hätte sie damit geneckt, was für ein Schlappschwanz sie sei. Jetzt war es ihrem Bruder doch noch gelungen, sie in die wilde Einsamkeit der Berge und Gletscher zu locken. Im Schein des Mondes näherten sie sich dem Rand des Gletschers. Etwas weiter östlich war der Hang stark zerklüftet und von tiefen Schluchten durchzogen. Dort hatte Jón den Deutschen gefunden.
Im Geiste sah sie ihren Bruder in den Händen der Soldaten oder schwer verletzt unten in der Gletscherspalte. Sie kannte diese erdrückenden Gefühle von früher, als Elías klein war. Als er vor ein Auto lief und drei Wochen bewusstlos im Krankenhaus lag. Sie hatte sich die Schuld daran gegeben, denn 235
sie hatte ihn zum Kiosk geschickt. Ihre Eltern waren nicht zu Hause, sondern auf einer Auslandsreise. Auf Reisen wurden die Kinder nie mitgenommen.
Sie war achtzehn und Elías acht Jahre alt, als sie ihn zum Kiosk schickte, um eine Flasche Sprudel zu kaufen. Als er wieder aus dem Kiosk herauskam, schien er direkt auf die Straße hinausgelaufen zu sein, ohne sich umzusehen. Dort war er von einem Auto erfasst und in die Luft geschleudert worden. Er landete zunächst auf der Motorhaube, prallte dann mit solcher Wucht gegen die Windschutzscheibe, dass sie zersplitterte, und flog anschließend über das Dach und landete hinter dem Auto auf der Straße. Er verlor augenblicklich das Bewusstsein, und unter seinem Kopf bildete sich eine große Blutlache. Sie wohnten ganz in der Nähe des Kiosks. Als Kristín die Sirenen des Polizeiautos und des Krankenwagens hörte, wusste sie sofort, dass Elías etwas zugestoßen war. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, weil er so lange ausblieb, und war bereits auf dem Weg nach draußen, als sie die Sirenen hörte. Sie rannte los und sah gerade noch, wie Elías auf einer Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Der Fahrer des Autos saß auf der Bordsteinkante und hatte den Kopf auf seine Arme gelegt.
Am Unfallort standen einige Passanten. Kristín sah Elías leblos daliegen. Sie ging wie in Trance zum Krankenwagen hinüber und begleitete ihn in die Klinik.
Die Operation dauerte acht Stunden. Elías hatte einen Schädelbasisbruch, und wegen einer Gehirnblutung gaben ihm die Ärzte kaum eine Chance. Ein Bein war
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