Gletschergrab
Schlitz in der Zeltwand. Er sprang hindurch, aber Júlíus war verschwunden.
Júlíus glaubte zu wissen, wo das Zelt war, in das sie Kristín gebracht hatten, und spurtete dorthin. Er zögerte keinen Augenblick, sondern schlitzte rasch die Zeltplane auf und kroch hinein. Unter dem Gedröhn des Helikopters eröffnete sich ihm ein grauenvoller Anblick. Das ganze Zelt war mit Blut bespritzt, und mitten im Zelt lag Steve mit einer klaffenden Kopfwunde.
Nicht weit von ihm war Kristín anscheinend bewusstlos auf dem Eis zusammengebrochen. Er sah, wie Simon und zwei andere Soldaten im Zelteingang standen und die deutsche Maschine 272
beobachteten, die langsam vom Gletscher abhob.
Júlíus beugte sich über Kristín und versetzte ihr ein paar leichte Klapse. Sie öffnete die Augen und starrte ihn an. Júlíus hielt ihr den Mund zu und flüsterte dicht an ihrem Ohr:
»Ich bin’s, Júlíus. Ich bin allein.«
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Ratoff befand sich im Heck des Pavehawk und versuchte, durch ein kleines Bullauge die Stahltrossen und das Flugzeug zu beobachten. Der Hubschrauber hob sich ganz langsam vom Eis, dann gab es einen Ruck, und er schien einen Augenblick in der Luft zu stehen, als das deutsche Wrack sich vom Eis löste, stieg dann aber langsam höher und beschleunigte. Sie schwebten in die Dunkelheit hinein, und nach kurzer Zeit entschwand das Zeltlager Ratoffs Blicken.
Sie flogen in fünftausend Fuß Höhe und hatten den Gletscher bald hinter sich gelassen. Der Lärm im Hubschrauber war ohrenbetäubend, aber Ratoff trug einen Helm und hatte durch die eingebaute Funksprechanlage direkte Verbindung mit den beiden Piloten im Cockpit. Mit diesem Ballast, dem an drei Stahltrossen hängenden Vorderteil der deutschen Maschine, konnten sie nur mit gedrosselter Geschwindigkeit fliegen. Bald würde auch der andere Hubschrauber mit dem hinteren Teil des Flugzeugs mit den Leichen an Bord starten. Die Flugzeugteile wurden vom Eis gehievt, wie man sie vorgefunden hatte, die Öffnungen mit starken Kunststoffplanen verschlossen.
Ratoff war der einzige Passagier in dem Helikopter. Mit halbem Ohr lauschte er den Gesprächen zwischen den Piloten und den Fluglotsen auf dem Stützpunkt in Keflavík, während er die Zwangslage abwägte, in der er sich befand. Voraussichtliche Ankunftszeit in Keflavík war in etwa fünfzig Minuten. Die Flugbedingungen waren ausgezeichnet, es war kalt, aber windstill, und sie kamen gut voran. Der Hubschrauber sollte direkt zu der C-17 fliegen, den Cargo auf einem Spezialfahrzeug absetzen, das dann in das Flugzeug hineinfahren würde. Ratoff wusste, dass die C-17 im Air-Force-Jargon die Keiko-Maschine genannt wurde. Sie hatte vor einem Jahr den Schwertwal Keiko 274
im Direktflug von Newport in Oregon nach Island geflogen, die Bilder waren um die ganze Welt gegangen. Die Maschine war in der Luft betankt worden, um sich Umstände zu ersparen und nicht unnötig Zeit zu verlieren. Auf diesem Flug würde es genauso sein.
In weniger als anderthalb Stunden würde sich die C-17 bereits in der Luft befinden, und damit war der isländische Teil der Operation abgeschlossen. Ein Flug um den halben Erdball schloss sich an. Ratoff ging davon aus, dass sie sich nicht um ihn kümmern würden, bevor sie am Bestimmungsort angelangt waren, aber darauf war kein Verlass. Er war überzeugt, dass die Dokumente, die ihm anvertraut waren, ihn das Leben kosten würden, falls er keine Vorsorge traf.
Er dachte darüber nach, weshalb Carr ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Carr hatte ihn seinerzeit in den Geheimdienst übernommen, hatte sich aber im Laufe der Zeit mehr und mehr von ihm abgewandt und ihn zum Schluss praktisch völlig links liegen gelassen. Dagegen hatte Ratoff nichts, denn auf diese Weise konnte er selber über seine Einsätze bestimmen und genoss eine gewisse Freiheit innerhalb des Geheimdienstes. Er wusste, dass viele einen Horror vor ihm hatten. Vielleicht plagte sie das eigene Gewissen. Ratoff erledigte die schmutzigsten Arbeiten für sie. Er brachte die Informanten zum Sprechen. Wie er das genau machte, war seine Sache. Je weniger sie darüber wussten, je weniger Carr davon wusste, desto besser.
Auf dem Gletscher war er zu dem Schluss gelangt, dass es nur einen einzigen Grund geben konnte, weshalb Carr ihn für diese Mission bestimmt hatte, nämlich dass er sie nicht überleben sollte. Es würde einfach sein, ihn verschwinden zu lassen. Er war ohnehin unbequem und stammte aus einer Vergangenheit, an die
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