Gletscherkalt - Alpen-Krimi
würde, um ihn, der noch etwas sagen, etwas
hinterlassen wollte, im Filmmodus aufzunehmen. Man würde ihn nicht sehen
können, davon war er überzeugt. Doch weil die Kamera nicht nur Fotos und
bewegte Bilder zu erstellen in der Lage war, sondern zugleich auch noch den Ton
aufnahm, konnte er so zumindest eine Sprachnachricht hinterlassen – seinen
Abschiedsgruß.
Wenn man mich findet, dachte er, ist es mein Abschiedsgruß. Wenn man
mich je findet. Wovon er keineswegs ausging. Vielleicht, dachte er, bleibe ich
auf ewig im Eis verschollen. Nein, nicht auf ewig. Der Gletscher wandert, und
irgendwann, in Jahrzehnten vielleicht, wird mein Körper dann an der Spitze des
Gletschers, an der Gletscherzunge, wieder freigegeben.
Er musste beinahe lachen bei dem Gedanken, dass er in fünfzig oder
sechzig Jahren aus dem Gletscher gerotzt werden würde, wahrscheinlich immer
noch bestens erhalten, tiefgekühlt, gefriergetrocknet, und vielleicht würden
das ja seine Kinder noch erleben. Nein, dachte er, sie nicht mehr. Aber
wahrscheinlich die Enkelkinder.
Lachen hatte er wollen. Eben noch war ihm zum Lachen zumute gewesen.
Jetzt aber kamen ihm die Tränen. Weinend begann er zu sprechen – hoffend, die
Kamera würde seine Worte festhalten und aufbewahren. Und hoffend, dass man ihn
nicht erst in fünfzig Jahren finden würde.
»Meine … Lieben …«, begann er.
15
Schwarzenbacher hatte sich die halbe Nacht unruhig im Bett
gewälzt, bis er um kurz nach halb sieben endgültig erwachte. Alles Mögliche war
ihm während des Schlafes und des Halbschlafes durch den Kopf gegangen. Und
alles hatte den Fall betroffen. Direkt oder mittelbar.
Er hatte viel an Manczic gedacht und was das für ein Mensch war. Wie
er sich entwickelt hatte nach dem tragischen Tod seiner Tochter. Ob er den
psychisch Kranken simuliert hatte, ein blödes Schmierentheater, oder ob er
wirklich so verstört war, wie man ihn lange durch die Stadt hatte ziehen sehen.
Er wälzte sich herum, fühlte Schmerzen vom Liegen, weil sein ganzer
Körper selbst bei besserem Schlaf schon lange nicht mehr die Entspannung fand,
die er eigentlich gebraucht hätte. Er dachte an die jungen Leute, die jetzt
droben bei Hosp in der Hütte die Nacht verbrachten. Es war bestimmt nicht
falsch gewesen, sie dorthin zu schicken. Im Gebirge hatten sie einen Riecher,
über den Hosp, dieser alt werdende Stadt-und Jazzmensch, gewiss nicht verfügte.
Er wird langsam so alt, dachte Schwarzenbacher, wie sein
Jazzgeschmack längst ist. Natürlich war Ellington genial, auch Lionel Hampton
oder Bix Beiderbecke und wie sie alle hießen. Aber deshalb mag man doch nicht
seine ganze Begeisterung … außer man ist schon alt, wenn man auf die Welt kommt
… Verdammt, ich hätte jetzt Lust …
Um kurz nach fünf war er bereits beinahe wach genug, um sich aus dem
Bett zu quälen und im Wohnzimmer die erste Scheibe jener Doppel- CD von e.s.t. einzulegen, Stück Nummer zwei »The Rube
Thing« oder Stück Nummer fünf »Definition of a Dog« – das Album »Live in
Hamburg« war ihm ans Herz gewachsen, es gehörte in diesen Tagen zum Liebsten,
was er sich musikalisch gönnte.
Doch er schaffte es dann nicht, aus dem Bett zu kommen, drehte sich
zu Ellen, ertastete ihren Rücken, spürte ihre gleichmäßigen Atemzüge und wurde
etwas ruhiger. Er ließ die Hand über ihre Hüfte gleiten, sehr langsam, sehr
vorsichtig, damit sie nur ja nicht aufwachte, und fuhr dann nach oben, bis er
eine ihrer vollen, warmen Brüste in seiner Handfläche fühlte.
Ellen stöhnte im Schlaf zweimal kurz auf, was irgendwie wohlig
klang, und so lagen sie, Schwarzenbacher und seine Gefährtin,
aneinandergedrückt, bis auch er wieder eingeschlafen war.
Eineinhalb Stunden später war er schlagartig wach.
»Verdammt!«, sagte er und versuchte, sich so schnell aufzusetzen,
wie ihm die Gedanken gekommen waren und ihn wachgerüttelt hatten. »Verdammt,
verdammt, verdammt! Warum hat daran niemand gedacht?!«
»Schlaf doch noch … Paul … Ist doch noch früh …«
Ellen hatte seine Aufregung offensichtlich noch nicht bemerkt.
»Ich kann jetzt nicht schlafen«, sagte er mit solcher
Entschiedenheit, dass auch sie im nächsten Moment hellwach war. »Ich muss etwas
unternehmen. Kannst du einen Kaffee machen?«
»Was ist denn los? Natürlich kann ich dir einen Kaffee machen. Aber
warum so früh am Morgen, es ist Samstag, wir hätten noch liegen bleiben können,
oder? Was ist nur wieder los mit dir?«
Doch er war schon auf. X-beinig
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