Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Bilder weckten in Marielle eine zunächst undefinierbare
Sehnsucht – trotz der in ihnen liegenden Einsamkeit. Es war vielleicht der
Wunsch nach der Einfachheit, dem Loslassen und Losgelöstsein von den
Verpflichtungen ihres Daseins. Ein Leben, reduziert auf die grundlegendsten
Dinge.
Eine Zeit lang wäre das sicher wunderschön, dachte sie. Mit der
Sonne aufstehen, mit dem Einbruch der Nacht ins Bett. Eine kleine Hütte und ein
paar Felder und Beete und dazu ein Klima, in dem eh alles wächst. Sich
weitgehend selbst versorgen, autark leben, kein Fernseher, kein Computer, kein
Studium, kein nichts.
Dem Kommentar zum Film konnte sie entnehmen, dass es sich um die
Bergwelt im griechischen Thessalien handelte. »Eine Region, die von Frühling
bis Herbst nach Bergkräutern, vor allem nach Salbei, duftet, wo vielerorts die
Zeit stehen geblieben zu sein scheint, und die auch vom Tourismus nie
überschwemmt worden ist – sieht man ab von den weltberühmten Klöstern von
Metéora und einigen bedeutenden archäologischen Stätten …«
Schmusetext, dachte sie. Dummes Heile-Welt-Geschwafel. Den Griechen
geht es beschissen in dieser Zeit.
Doch als der Film dann die Felsen von Metéora zeigte, lotrechte
Türme, steile Kanten, markante Risse, da begann sie auch schon wieder zu
träumen: Wie das wäre, wenn man in dieser Gegend hausen würde, für ein Jahr
oder auch nur für ein halbes, schließlich wäre es perfekt, zum archaischen
Leben auch noch die Gelegenheit zum Klettern zu haben. Und dort, in Metéora,
musste es tolle Routen gegeben, davon hatte sie früher schon gehört und in
einem Kletter-Magazin auch mal gelesen.
Sie zog sich etwas an, ließ den Fernseher dabei kaum aus den Augen.
Verdammt schön ist es dort. Ich muss dahin.
Wie viele leidenschaftliche Kletterer ihrer Generation wünschte sie
sich oft, nichts anderes tun zu müssen als einfach nur klettern und reisen,
reisen und klettern. Dass ein Sponsor seinen Geldsegen über sie ausschütten
möge und es reichen würde für ein sorgenfreies Dasein inmitten der schönsten
Kletterlandschaften der Welt. Südfrankreich, Kalifornien, Utah, Nevada, Tessin
und Norwegen, Sardinien und Griechenland. Überall da wäre es schön. Manchmal
hatte sie von den Alpen genug. Nicht nur wegen zweier traumatischer
Erfahrungen. Nicht nur wegen der Mordgeschichten, mit denen sie dabei zu tun
gehabt hatte. Was ihr das Unterwegssein in den heimischen Bergen bisweilen
vergällte, war die touristische Überflutung, die sie da immer wieder
feststellte und die ihr gehörig auf die Nerven ging. Menschen, Menschen,
Menschen. Und überall Seilbahnen und überall Berghütten, die längst zu
Panorama-Aussichts-Komfort-Pensionen-plus-Restaurants mutiert waren.
So stimmt das auch wieder nicht, dachte sie und sagte zu sich
selbst: Sei nicht ungerecht.
Denn sie wusste, dass es in den Alpen unendlich viel Wildnis gab, wo
man stunden-, in manchen Regionen tagelang in völliger Einsamkeit unterwegs
sein konnte. Und doch …
Und doch kotzt es mich manchmal an, und ich frage mich dann, ob es
wirklich Sinn macht, mich zur Bergführerin ausbilden zu lassen. Gut, ich würde
dafür bezahlt werden, im Gebirge unterwegs zu sein. Andererseits würde ich noch
mehr Leute ins Gebirge bringen, wo ich eigentlich lieber allein wäre, allein
mit Freunden.
Sie musste daran denken, wie sie gestern nach ihrer Gletschertour
zur Hütte zurückgekehrt waren: Diese Menschenansammlung! Bergsteiger, genau wie
sie und Pablo. Und Unmengen von Ausflüglern, die nur bis zur Hütte
heraufgestiegen waren. Selbstbedienung, anstehen in Schlangen, gastronomischer
Großbetrieb für unersättliche Esser und Trinker. Sind auch Naturfresser, dachte
sie.
Marielle hätte nicht sagen können, warum ihr genau dieser Moment so
in Erinnerung geblieben war. Die zwei Bergsteiger, die in der Hütte ihre
Nachtquartiere bezahlten … » AV -Mitglieder?«,
hatte die Frau an der Durchreiche gefragt. Und auf das Nicken der beiden hin
hatte sie die Ausweise sehen wollen. »Die Ausweise müsst ihr schon dabeihaben!«
Und die zwei hatten die Ausweise dabeigehabt; scheckkartengroß und
alpenvereinsgrün. Die Frau hatte einen Blick darauf geworfen, hatte die Gebühr
verlangt und ihnen ihre Belege ausgehändigt. Das war’s …
Ja, dachte Marielle, das war alles. In jeder schäbigen Pension wird
man nach dem Personalausweis gefragt. Auf so einer Hütte nicht. Und falls doch
mal, braucht man nur zu sagen, man habe ihn vergessen. Wichtig ist doch
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