Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Brixen, und so ein Leben ganz ohne
Auto bewältigt.
Wasle sprang auf, der Stuhl wäre dabei beinahe nach hinten
umgekippt, zog sein Handy so schnell wie eine Pistole aus der Tasche und eilte
zur Tür.
Hosp nickte nur. Seinen Blick hatte er zunächst auf die Tischplatte
gerichtet. Dann sah er von unten herauf zu Marielle und zu Pablo.
»Danke«, sagte er. »Wieder ein Puzzleteil.« Er blickte ganz auf und
sagte in den Raum hinein: »Hätte ich früher draufkommen können.«
*
Hildegard Auringer war glücklich. Es war einer dieser Tage für
sie gewesen, die sie herbeisehnte, die sie gleichsam herausholten aus ihrem
Gefängnis, bei dem zwar die Tür offen stand, es aber nicht in Frage gekommen
wäre, einfach zu gehen.
Sie war jetzt siebenundsechzig. Ihr Mann, mit dem sie früher so
gerne in die Berge gegangen war, ging auf die achtundsiebzig zu.
»Man sollte nie einen älteren Mann heiraten.«
Manchmal musste sie an diese Worte einer Bekannten denken.
Der Ihre war beinahe elf Jahre älter. Und er war krank. Demenz. Sie
konnte ihn nicht allein lassen. Wie ein Kind war er. Ein kleines, unbeholfenes
Kind. Ihr Sohn half, wo es ging. Und alle paar Wochen kam ihre Schwester Renate
aus Ingolstadt und übernahm für einen Tag die Betreuung. Dann stieg Hildegard
Auringer in ihren Polo und fuhr damit in die Berge: wandern, durchatmen, Kraft
schöpfen aus der Schönheit, die sie dann sah und erlebte.
Sie brauchte niemanden fürs Bergwandern. Sie war dann ganz gerne
allein. Hatte keine Angst vor dem Gebirge, nicht vor dem Wetter, nicht auf
schmalen Wegen. Und schon gar nicht vor anderen Menschen.
Wer würde einer so Alten wie mir schon noch was tun wollen?, war
ihre Meinung.
Sie kam von der Hochlandhütte, einer kleinen, noch urigen
Bergsteigerunterkunft am Fuße des Wörners und der Tiefkarspitze, der
nordwestlichsten Ausläufer des Karwendelgebirges. Am Vormittag war sie
hinaufgewandert, ganz gemächlich, hatte sich viel Zeit gelassen, um all das zu
sehen, was die Landschaft bereithielt. Den Wildbach mit seinen Kaskaden und
Gumpen, den Mischwald in all seinen Laub-und Nadelvariationen, die Bergblumen,
die umso vielfältiger wurden, je höher sie kam, die Ausblicke nach droben zu den
Felsflanken der Karwendelberge und hinüber zum wuchtigen Wetterstein sowie dem
nördlich vorgelagerten, geradezu niedlichen Kranzberg, den sie vor allem vom
Winter her kannte – da war sie schon einige Male mit Ski hinaufgestiegen und
über die Piste wieder abgefahren.
Sie hatte sich in gut tausendsechshundert Metern Höhe auf die
Terrasse der Hütte gesetzt, es war warm genug, dass man es, eine Fleecejacke
an, im Windschatten gut aushalten konnte. Die Erbswurstsuppe und das dunkle
Brot hatten ihr wunderbar geschmeckt. Und sie, die höchst selten Alkohol trank,
hatte sich sogar eine Radlerhalbe gegönnt und sie wirklich genossen. Zwei
Stunden war sie geblieben, hatte auch noch ein Haferl Kaffee getrunken, ein
Stück Kastenkuchen dazu gegessen und einen Plausch mit den netten Wirtsleuten
gehalten. Danach war sie auf dem schmalen, bisweilen etwas felsigen und
ausgesetzten Steig Richtung Dammkar gewandert, von wo sie dann auf breiter
Forststraße zum Parkplatz bei Mittenwald zurückgekehrt war.
Glücklich. Und gestärkt für ihren Alltag. Jeder dieser Tage war eine
Herausforderung. Sie nahm sie an. Zugleich aber freute sie sich schon jetzt auf
nichts mehr als auf den nächsten freien Tag, den sie – unbedingt – wieder im
Gebirge verbringen wollte.
Am Parkplatz kamen zwei Männer auf sie zu, Wanderer. Der eine
jünger, der andere schon ziemlich alt. Der Junge machte einen südländischen
Eindruck, er war groß und wirkte stark. Der Alte hingegen wirkte müde, ging ein
wenig gebückt, kam auf sie zu, sagte: »Wir kommen von der Mittenwalder Hütte.
Sind mit der Bahn gekommen. Sie sind auch eine Bergsteigerin. Könnten Sie mich
und meinen Neffen vielleicht zum Bahnhof in Mittenwald mitnehmen?«
Hilde Auringer nahm normalerweise nie jemanden mit. Abgesehen von
Schülerinnen, die mit erhobenem Daumen am Straßenrand standen, was sie stets
als leichtfertiges und gefährliches Unterfangen ansah. Mädchen nahm sie mit,
damit sie gar nicht erst Gefahr liefen, einem Sextäter in die Hände zu fallen.
An Männern fuhr sie vorüber, egal wie vertrauenerweckend die wirken mochten.
Doch die beiden hier? Wanderer. Den jüngeren hätte sie allein nie mitgenommen,
aber es war ja der alte dabei. Und der war doch harmlos.
»Ich fahr eigentlich nicht
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